Donnerstag, 18. Dezember 2008

Colonel Tod tritt vor seinen Richter


Die Stufen, die in die Katakomben unter der Kirche von Ntarama führen, knarren in der Stille. Nur wenige Meter abwärts führt die schmale Treppe in eine kalte und staubige Gruft, in der die sterblichen Überreste tausender Opfer des Genozids von 1994 aufgebahrt sind. Särge stapeln sich an den Wänden, doch von den meisten Toten ist nicht mehr übrig geblieben als der Schädel. Wie groteskes Obst an einem Marktstand liegen sie auf Brettern aufgereiht.

Als im April 1994 die Verfolgung der Tutsi und moderaten Hutu begann, verschanzten sich die Verfolgten von Ntarama in der Kirche, weil sie sich dort sicher fühlten. Doch die Verfolger kannten kein Erbarmen: Sie warfen erst Granaten und stürmten dann das Gotteshaus. Mehr als 10 000 Menschen, so berichten die wenigen überlebenden Augenzeugen, wurden mit Macheten und bloßen Händen umgebracht. Im ganzen Land waren es bis zum Ende des Völkermords mindestens 800 000.

In Ntarama wurden so viele ermordet, dass auch heute, 14 Jahre nach dem Genozid, nicht alle Gebeine unter der Erde sind. Im Seitenschiff der Kirche stehen Plastiksäcke voller Knochen, die noch beigesetzt werden müssen. "Niemand soll jemals sagen können, den Genozid habe es nicht gegeben", hofft André Kamana, der Touristen durch die Gedenkstätte führt.

Der Mann, der den Völkermord an der ethnischen Bevölkerungsminderheit der Tutsi minutiös vorbereitet haben soll, sitzt seit elf Jahren in einer Zelle im tansanischen Arusha, wo er sich dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ruanda stellt. Heute geht sein Prozess zu Ende: Nach 408 Verhandlungstagen verkündet der erste Senat das Urteil gegen Théoneste Bagosora, genannt Colonel Tod. Das Urteil gilt als das bedeutendste seit der Einrichtung des Tribunals.

Die Anklage gegen den 1941 geborenen Militär, der im Genozid als Kabinettsdirektor das Verteidigungsministerium leitete, lautet unter anderem auf Verschwörung, Aufhetzung und Anstiftung zum Völkermord sowie diverse Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Bagosora nahm an der Planung, Vorbereitung und Ausführung einer Strategie (für den Völkermord) teil", heißt es in der Klageschrift. "Die Verbrechen wurden von ihm persönlich, mit seiner Hilfe oder von seinen Untergebenen mit seinem Wissen und Einverständnis ausgeführt." Auch Morde und Vergewaltigungen warfen ihm Zeugen der Anklage im Laufe des Prozesses vor. Bagosora gab offenkundig nicht nur die Befehle, sondern war bei den blutigen Massakern gerne selbst dabei. Er selbst will davon nichts wissen: Bis heute weist Bagosora alle zwölf Anklagepunkte zurück. "Ich glaube nicht an die Theorie, dass es einen Genozid gegeben hat", ließ er das verblüffte Tribunal wissen.

Dabei war Bagosora zweifellos einer seiner Organisatoren. Nach dem gewaltsamen Tod von Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana - sein Flugzeug wurde beim Landeanflug auf Ruandas Hauptstadt Kigali abgeschossen - riss Bagosora sofort die Macht an sich; Stunden später begannen die ersten Massaker. "Bagosora übernahm die Kontrolle über Ruanda", sagte der kanadische General Roméo Dallaire im Prozess aus. An sein Treffen mit Bagosora an besagtem Abend erinnert er sich genau: "Bagosora erklärte mir, das Militär werde jetzt die Regierung übernehmen, und ich erinnerte ihn daran, dass Ruanda immer noch eine Premierministerin habe, die jetzt an der Spitze des Staates stehe."

Bagosora habe sich aufgeregt, niemals werde er das akzeptieren. Wenige Stunden später waren Premierministerin Agathe Uwilingiyimana und ihre Schutztruppe, zehn belgische UN-Blauhelme, tot. Bagosora trifft da bereits alle Entscheidungen: Er verhängt eine Ausgangssperre und ruft das Komitee zusammen, das eine ihm genehme Übergangsregierung wählt. Bei einer Party erklärt er Zeugen zufolge in bester Laune: "Wir müssen alle Tutsi umbringen, um jeden Preis. Eine solche Chance kriegen wir nie wieder." Moderate Offiziere, die das nicht mittragen wollen, entlässt er oder stellt sie kalt. Vor allem aber setzt er den Völkermord ins Werk.

Listen habe Bagosora verteilt, berichtet ein Zeuge, der im Prozess von Den Haag aus über Video gegen Bagosora aussagt. "Ab dem 9. April gab es eine Liste von ihm, auf der prominente Tutsi standen, die als erste umgebracht werden sollten." Wer darauf stand, sei meist einen Tag später tot gewesen. Bagosora ist kein Opportunist, er ist Überzeugungstäter. Seine erste Liste von "Staatsfeinden" stellte er bereits drei Jahre vor dem Genozid auf, als Präsident Habyarimana ihm den Auftrag gibt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was müssen wir tun, um den Feind militärisch, propagandistisch und politisch zu besiegen? Habyarimanas Hutu-dominierte Einparteienregierung spürte den Druck der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), einer mehrheitlich aus Tutsi bestehenden Rebellenbewegung, die von Uganda aus operierte.

Bagosoras Bericht liest sich bereits wie die Hetzreden, die er während des Genozids im Radio verbreiten lässt. "Der Feind, das sind die Tutsi, regierungskritische Hutu und Ausländer, die mit Tutsi verheiratet sind." Bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen spricht Bagosora noch unverblümter: "Wir brauchen einen Krieg, der das Land in ein apokalyptisches Chaos stürzt, damit wir alle Tutsi eliminieren können, dann erst haben wir Frieden." Als Habyarimana 1993 einen Friedensvertrag mit der RPF unterschreibt, verlässt Bagosora unter Protest den Saal. Mehrere wollen gehört haben, wie er sich mit dem Satz verabschiedete: "Ich kehre nach Ruanda zurück, um die Apokalypse vorzubereiten."

Mit Unterstützung eines faschistoiden Zirkels von Hutu-Extremisten, der von der Frau des Präsidenten geführt wird, schafft Bagosora die militärische Basis für den Völkermord. Sein 1993 geschriebenes Programm für "Zivile Selbstverteidigungsgruppen", das er zunächst nicht umsetzen darf, ist ein Leitfaden für die mit Macheten und kruden Waffen ausgerüsteten Mordtrupps, die ein Jahr später binnen Wochen in ganz Ruanda aufgestellt werden.

Bagosora selbst soll entschieden haben, dass Gewehre für die Massenmorde zu teuer seien, auf sein Geheiß wurden hunderttausende Macheten importiert. Verantwortlich für die Aufstellung der Trupps blieb bis zuletzt Bagosora. "Das Modell der Zivilen Verteidigungsgruppen, für welches aufgerüstete Zivilisten zur Eliminierung aller Tutsi aufgehetzt wurden, machte aus einem potenziellen Bürgerkrieg einen Genozid", konstatiert die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch. Im Prozess wurden Filme gezeigt, die Bagosora zeigen, während er den Milizen Befehle gibt.

Doch trotz der erdrückenden Beweislast gibt sich Bagosora als Opfer einer politischen Verschwörung. "Ich erkläre feierlich, dass ich niemals einen Menschen getötet oder die Ermordung von irgendjemandem angeordnet habe", erklärte er in seinem Schlussplädoyer. Seine Verteidiger haben geschuftet, um diesen Eindruck zu untermauern. 160 Zeugen haben sie aufgeboten, fast doppelt so viele wie die Anklage. Am Gesamteindruck änderte das wenig. Der Architekt der ruandischen "Endlösung" steht vor ernsthaften Richtern.

(Copyright Berliner Zeitung, 18.12.08)

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Schiffe, Ladung und Routen sind bestens bekannt


Das Auffahren immer neuer Kriegsschiffe vor dem Horn von Afrika hat Somalias Piraten bisher keinen Dämpfer versetzt. Zwar wurde in der vergangenen Woche kein neues Schiff entführt - eine versuchte Kaperung vor Tansanias Küste schlug fehl -, doch die 25-köpfige Besatzung des saudischen Supertankers "Sirius Star" etwa wartet auch fast einen Monat nach der Verschleppung darauf, dass der staatliche Reeder und ihre Entführer sich auf ein Millionenlösegeld einigen.

Seeleute wissen um die Macht der Seeräuber: Aus Angst vor einem Angriff ließ der Kapitän des deutschen Kreuzfahrtschiffes "MS Columbus" die fast 250 Touristen an Bord am Mittwoch nach Dubai ausfliegen, während er das Schiff mit Kleinstbesatzung durch die gefährlichen Gewässer geleiten will. Eine beantragte Militäreskorte war vorher abgelehnt worden. Somalias Piraten, glaubt Andrew Mwangura von Kenias Seafarer Association, handeln nach wie vor aus einer Position der Stärke heraus.

"Die Piraten sind mit modernster Technik ausgerüstet und können aus 200 Kilometern Entfernung die Registriernummer eines Schiffs erkennen", weiß Mwangura. Dazu komme, dass die Hintermänner der Piraten international vernetzt seien und genau über Schiffe, Ladungen und Routen Bescheid wüssten. Auch die EU-Mission in den Gewässern rund um Somalia, an der nach Willen des Bundeskabinetts nun auch die Deutsche Marine teilnehmen soll, werde an der Überlegenheit der Piraten nichts ändern. "Kriegsschiffe sind allenfalls eine kurzfristige Lösung."

Mit solchen Einschätzungen steht Mwangura, der das Treiben der Piraten in der Region seit Jahren aufmerksam verfolgt, beileibe nicht allein da. Doch an immer kämpferischen Tönen aus aller Welt ändert das nichts. "Niemand sollte überrascht sein, wenn die chinesische Marine Schiffe schickt, um die Piraten auszuradieren", kündigte zuletzt der chinesische General Jin Yinan an.

Auch Somalias Piraten, die das Nachrichtengeschehen aufmerksam verfolgen, drohen inzwischen mit deutlichen Worten. Hieß es zunächst, man werde Besatzungen gut behandeln, meldete sich jetzt ein Pirat von Bord des ukrainischen Frachters "MS Faina" zu Wort, der die brisante Fracht von 30 Panzern an Bord hat. "Einige Crewmitglieder haben sich danebenbenommen", erklärte der Mann, nachdem offenbar mehrere Entführte versucht hatten, die Piraten zu überwältigen. "Sie riskieren ernsthafte Bestrafungen." Den Eignern riet er, sich mit den Verhandlungen über ein Lösegeld zu beeilen: "Die Besatzung ist frustriert, und wir sind es auch." Die Entführung dauert bereits mehr als zweieinhalb Monate. Insgesamt haben die Piraten derzeit gut ein Dutzend Schiffe und 200 Seeleute in ihrer Gewalt.

Während in Europa noch über den anstehenden Marineeinsatz diskutiert wird, wächst innerhalb der Vereinten Nationen der Druck, das Problem von Landseite zu lösen. "Es ist klar, dass die Piraterie eng mit dem Fehlen von Frieden und Stabilität in Somalia zusammenhängt", erklärte der UN-Sonderbeauftragte Ahmedou Ould Abdallah am Mittwoch zur Eröffnung eines zweitägigen Antipirateriegipfels in Nairobi. Am Donnerstag werden dazu 140 Regierungsvertreter aus 40 Ländern erwartet. "Wir hoffen, dass die hochrangige Besetzung zu mehr internationaler Zusammenarbeit führen wird", so Ould Abdallah. Deutlich sagen will es niemand, doch hinter den Kulissen wird bereits die Entsendung einer UN-Eingreiftruppe diskutiert. Seit Jahren hat der Sicherheitsrat entsprechende Anliegen vertagt, jetzt scheint die Zeit reif - zumal die somalische Regierung ihr Einverständnis signalisiert hat. Insider im UN-Hauptquartier in New York berichten, dass sich dort seit Wochen Somalia-Experten aus aller Welt die Klinke in die Hand geben.

(Copyright die tageszeitung, 11.12.08)

Mittwoch, 10. Dezember 2008

"Tausende Choleratote" in Simbabwe


Wer in den einst reichen Vorstädten von Harare wohnt, der hat zumindest noch den Swimming Pool. "Seit Wochen schöpfen wir unser Trinkwasser aus dem Becken", berichtet Florence Mbala (Name geändert) telefonisch aus der simbabwischen Hauptstadt. "Aus den Wasserhähnen kommt schon lange nichts mehr." In den Armenvierteln wie Mbare bedeutet das: Menschen trinken, was sie kriegen können. "Ich habe Männer gesehen, die aus Pfützen am Wegesrand Wasser geschöpft haben", so Mbala. Weil auch die Kläranlagen nicht mehr funktionieren und rohe Abwässer aus den Kanälen in die Straßen laufen, breitet sich die Cholera rasend schnell aus - trotz internationaler Hilfe. Auf mehr als 600 hat sich die offizielle Zahl der Choleraopfer am Dienstag erhöht, nahezu 14.000 Fälle hat die Weltgesundheitsorganisation bisher registriert - soweit die offiziellen Zahlen. Doch Simbabwer wie Itai Rusike glauben indes, dass die Zahl der Toten in die Tausende geht. "Es ist unmöglich zu sagen, wieviele genau sterben", sagt der Direktor der simbabwischen Hilfsorganisation 'Nachbarschaftshilfe für Gesundheit'. Das gelte vor allem auf dem Land. "Krankenhäuser dort sind zu, es gibt keine Ärzte oder Krankenschwestern, selbst die Telefone sind ausgefallen, so dass man nichts erfährt." Das alles, sagt Rusike, seien die Zeichen eines auseinanderbrechenden Staates.

Dafür, dass in Simbabwe auch die letzten Überreste des Staates auseinanderbrechen, ist die Cholera-Epidemie das bislang deutlichste und erschreckendste Symptom. Selbst Simbabwes Gesundheitsminister David Parirenyatwa muss inzwischen einräumen, dass die Regierung hilflos ist. "Unsere Krankenhäuser funktionieren nicht, wir brauchen dringend internationale Hilfe, um die Versorgung wieder in Gang zu bringen." Solche Töne aus dem Kabinett, das Präsident Robert Mugabe in seinem eisernem Griff hat, waren bislang nicht zu hören. Cholera ist nicht das einzige Problem: Ein achtjähriger Junge, der beim Spielen auf dem Schulhof hinfiel, starb nach einer Woche, weil niemand sein geschwollenes Knie behandeln konnte.

Wer helfen will, ist inzwischen schnell überfordert. Ein Pfarrer, der seit Monaten Mais aus dem Ausland nach Simbabwe schmuggelt, um den Ärmsten zu helfen, stöhnt: "Wir haben einen solchen Ansturm auf unsere Kirche erlebt, dass wir jetzt unsere Tore schließen mussten - alles andere wäre zu gefährlich, weil der Geheimdienst uns genau im Blick hat." Denn viele der Hilfesuchenden vor allem in Harare sind Anhänger der Opposition. Das Maismehl will der Pfarrer, der auch Hilfen aus Deutschland erhält, jetzt über befreundete Gemeinden verteilen. Auch das rare Rehydrierungspulver zur Behandlung der Cholera soll so verteilt werden. "Ich komme aus Uzumba im Umland von Harare, aus meinem Dorf alleine sind 300 Menschen vertrieben worden", erzählt Fiona Musaka (Name geändert), eine derjenigen, die vor dem Kirchentor um Hilfe betteln. Auf dem Rücken hat sie das jüngste ihrer vier Kinder gebunden. "Mindestens fünfzehn Bewohner wurden umgebracht, andere wurden so misshandelt, dass die jetzt behindert sind." Gerne würde sie zurück auf ihren Hof, doch ihr eigenes Haus wurde niedergebrannt, weil sie im Wahlkampf Werbung für die Opposition von Morgan Tsvangirai machte. "Ich habe kein Zuhause mehr."

Auch Givemore Nyakudyas Kind, eine Tochter, ist tot: vor drei Wochen starb sie an Cholera. "Diejenigen, die nicht an Cholera sterben, werden verhungern", prognostiziert er düster. In den Läden gibt es kaum noch etwas zu kaufen, und wenn, dann ist es für die meisten unerschwinglich. 35 Millionen Simbabwe-Dollar kostet derzeit ein Brot; morgen werden es vermutlich 70 Millionen sein, so schnell steigen die Preise. Der ohnehin wertlose Simbabwe-Dollar erreicht derzeit neue Tiefen, seit die Regierung am Freitag neue Millionengeschenke an Militär und Polizei ausgezahlt hat. Doch selbst solch kaum verbrämte Bestechung reicht offenbar nicht mehr aus, um Mugabes letzte Unterstützer bei der Stange zu halten. Zwar wurden Polizei und Militär am Dienstag angewiesen, jeden Protest schon im Keim niederzuschlagen. Doch mit Waffen ausgerüstet wurden die Einheiten nicht. "Die Armeeführung weiß nicht mehr, auf wen sie sich verlassen kann", sagt ein Insider. Spätestens seit Soldaten vor einer Woche Unruhen in Harare anführten, weil sie vor einer Bank stundenlang erfolglos auf Geld gewartet hatten, gilt der Sicherheitsapparat als Risiko für die Regierung. Ein gutes Viertel der Streitkräfte, so schätzen Bewohner in Harare, ist kurz davor, zu desertieren.

(Copyright Aargauer Zeitung, 10.12.08)

Samstag, 6. Dezember 2008

Schon wirkt das süße Gift


Auf dem Markt von Ashaiman erreichen die Händler ihre Höchstform: Bevor die schwüle Mittagshitze in der Arbeitervorstadt am Rand von Ghanas Hauptstadt Accra jeden Schritt zur Qual macht, werfen sie sich förmlich auf die in buntes Tuch gewickelten Hausfrauen und die Männer in Anzügen, die sich durch die engen Gänge drängen. Füllige Verkäuferinnen wedeln mit mächtigen Yamswurzeln und rasseln mit Bottichen voll Reis, aber nur wenige Kunden greifen zu. "Ich verdiene 55 Cedi im Monat", rechnet der Lehrer Felix Akwafo vor. Das entspricht etwa 45 Euro. "Zwanzig gehen für die Miete drauf, bleibt etwa ein Cedi, den ich pro Tag für alles andere ausgeben kann." Knapp ein Euro. Die Preise für die Grundnahrungsmittel Yams, Reis oder Bohnen steigen seit Monaten. "Ich versuche, mit Nachhilfestunden zuzuverdienen, aber auch die Eltern sind knapp bei Kasse."

Am Sonntag geht Akwafo wählen, das Parlament und einen Nachfolger für Präsident John Kufuor, der nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf. Einen westafrikanischen Musterstaat nach westlichem Gusto hat Kufuor aus der ehemaligen Militärdiktatur gemacht. In Europa und den USA wird er dafür gerühmt. In Ghana sehen ihn viele vor allem als den Präsidenten, unter dem das Leben immer teurer geworden ist. Seine potenziellen Nachfolger verkünden deshalb seit Monaten, was sie besser machen wollen für die Menschen in Orten wie Ashaiman. Freie Schulbildung, sozialer Wohnungsbau, kostenlose Gesundheitsversorgung sind nur einige der Versprechen für die verarmte Mehrheit. Zwar entstand unter Kufuor eine solide Mittelschicht, die sich Auto, Haus und Urlaub leisten kann, doch fühlt sich die Masse der Geringverdiener, solche wie Felix Akwafo, abgehängt.

"Ashaiman verändert sich", findet auch Josephine Dzimedi. Sie leitet die Schule, an der Felix Akwafo eine sechste Klasse unterrichtet. "Aus Accra ziehen immer mehr Leute her, die sich ein Einfamilienhaus bauen." Neuerdings gibt es Straßenlaternen, nach und nach ziehen die zahlungskräftigen neuen Nachbarn ein. "Nur mit der Wasserversorgung haben wir noch ein Problem, aber das wir wohl auch bald gelöst", sagt die Schulleiterin. Einerseits freut sie sich über die Aufwertung der Vorstadt, die kurz nach der Unabhängigkeit Ghanas 1957 als Auffanglager für diejenigen begann, die beim Bau des Hafens Tema verdrängt wurden. Sie errichteten Häuser, erst aus Holz, dann aus Stein. Heute zählt Ashaiman Hunderttausende von Menschen, der ehemalige Slum ist eine der größten Siedlungen des Landes. Doch für die Armen, klagt Dzimedi, tut der Staat nichts.

"Es gibt eine einzige staatliche Schule, in jeder Klasse sitzen 70, 80 Kinder. Da lernen sie nichts." Deshalb kaufte Dzimedi selbst ein Stück Land und gründete in besseren Holzschuppen ihre eigene Schule. Mit Mikrokrediten der Hilfsorganisation Opportunity International hat sie die Schule Stück für Stück erweitert, mehr als 300 Schüler werden heute unterrichtet. Die Hälfte der Klassenräume hat bereits steinerne Mauern; den Kredit von umgerechnet 20 000 Euro zahlt Dzimedi in Monatsraten pünktlich ab. "Politiker kamen und gingen, ich habe keine Veränderung erlebt", sagt sie. "Ich kämpfe immer noch selbst für meine Schule, wie immer." Doch nicht alle sind so geduldig wie die massige, selbstbewusste Frau.

Auf dem Marktplatz von Ashaiman stehen vor allem Jugendliche in Grüppchen zusammen. Erregt diskutieren sie. "Die Stimmung vor den Wahlen ist angespannt", hat Dzimedi beobachtet. Gerüchte machen die Runde, über Seilschaften, über die Günstlinge des neuen Reichtums. Denn ab 2010, so heißt es, wird in Ghana Öl fließen: Direkt vor der Küste wurde 2007 eines der reichsten Vorkommen Afrikas entdeckt.

"Der Streit darum, wer vom Öl profitiert, vergiftet schon jetzt die politische Atmosphäre", urteilt Kwesi Aning, der 30 Autominuten von Ashaiman entfernt die Forschungsabteilung am Internationalen Trainingszentrum für Friedenstruppen leitet. "Die Erwartungen sind immens und kaum einzulösen." Das gilt vor allem für die meist arbeitslosen Jugendlichen, von denen viele weder Schulabschluss noch Ausbildung haben. "Das sind ungelernte Hilfskräfte, die im Ölgeschäft keine Jobs kriegen", so Aning.

Doch in Erwartung des Ölreichtums steigen die Preise für Land, Mieten und Lebenshaltung in und um Accra. Die Wut der jungen Leute wurde durch Politiker angestachelt, die auf ihren Kundgebungen Geldscheine austeilten, um die Jugend auf ihre Seite zu ziehen. Die Folge: So gewalttätig wie dieser Wahlkampf war noch keiner.Vor allem im besonders armen Norden kam es zu Ausschreitungen. Bei Schusswechseln zwischen Anhängern von Opposition und Regierung gab es mehrere Tote.

"Alles wird größer, protziger, besser, davon will ich auch was abhaben", ärgert sich auch Baba, ein Mann mit Schnurrbärtchen, Anfang 20, der neben einer der vielen Baustellen im Zentrum Accras Bleistifte verkauft. In Erwartung des Öls erlebt Accra einen beispiellosen Aufschwung. Hotels, Bürohochhäuser und Einkaufszentren entstehen. Indische und chinesische Bautrupps haben gerade den neuen Präsidentenpalast fertiggestellt: die monströse Version eines asiatischen Tempels mit Anleihen aus Ghanas Folklore für 50 Millionen Dollar. Der Staat ist pleite, soeben hat Ghana 750 Millionen Dollar Staatsanleihen aufgenommen. Auch internationale Kreditgeber rechnen damit, dass Petrodollars alle Schulden begleichen werden.

Doch Öl ist nicht die einzige Finanzquelle für Ghanas neue Kulisse. Viele der Baustellen, da ist Kwesi Aning sicher, sind vor allem Waschmaschinen für Schwarzgeld aus dem internationalen Drogenhandel. Ghana ist in den vergangenen Jahren zum wichtigen Drehkreuz aufgestiegen. "Drogengeld durchdringt längst alle staatlichen Institutionen und gefährdet den Zusammenhang unserer Gesellschaft", sagt Aning. "Zoll, Polizei, Justiz und Politik: Alle sind in das Geschäft mit Kokain und Heroin für Europa verstrickt."

Ganze Dörfer machen mit: In dem Fischerort Prampan entdeckten Fahnder vor zwei Jahren 1 900 Kilo Kokain in einem Schuppen. Und als ein Abgeordneter der Regierungspartei, Eric Amoateng, in New York verhaftet wurde, als er Heroin im Wert von sechs Millionen Dollar ins Land schmuggeln wollte, protestierte sein Wahlkreis fast geschlossen gegen die Festnahme. Viele, so glaubt Aning, waren in Amoatengs Geschäfte verstrickt. Selbst der Wahlkampf, der teuerste, den Ghana je sah, sei durch Drogengelder mitfinanziert. "Es wärenaiv zu glauben, es sei anders."

Kolumbianische Kartelle haben Westafrika mit seinen schwachen Staatsstrukturen als Durchgangsstrecke auf dem Weg nach Europa entdeckt. Sie heuern Ghanaer an, um auf See oder an der Küste beim Transport der großen Mengen Kokain zu helfen. Bezahlt werden die Helfer in Naturalien. Diese Drogen werden dann in einem zweiten, "kleinen" Kreislauf nach Norden geschickt: "Dazu braucht man viele Helfer, denn Kokain wird meist mit Boten geschmuggelt, die die Drogen verschlucken oder anders verstecken", sagt ein Zöllner, der auf Accras Flughafen Kotoka arbeitet. Seinen Namen darf er nicht nennen. Einige seiner direkten Vorgesetzten, da ist er sicher, seien in das Geschäft mit den Drogen verwickelt. "Wer quatscht, muss dran glauben." Auch der Binnenmarkt wächst, willige Dealer gibt es an Plätzen wie Ashaiman genug. "Gelingt es der neuen Regierung nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren, den Drogensumpf trockenzulegen", prophezeit Aning, "werden die Drogenbosse das Land ganz kontrollieren."

(Copyright Berliner Zeitung, 6.12.08)

Montag, 1. Dezember 2008

Blutige Politik


Die Leichen liegen achtlos aufeinandergeworfen im Hof der Zentralmoschee von Jos. Viele von ihnen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder verstümmelt. Mindestens vierhundert Tote seien es, berichten Augenzeugen. Wie viele Opfer die Massaker in der Hauptstadt der nigerianischen Plateau-Provinz am Wochenende wirklich gefordert haben, ist bisher nicht bekannt. Ein Sprecher der örtlichen Polizei sagt am Sonntag nur, es seien "sehr viele".

Die Unruhen in Jos sind die schlimmsten, die die Bewohner der Provinz im Zentrum des Landes seit Jahren erlebt haben. Polizisten patrouillieren mittlerweile mit der Armee durch die Armenviertel der Stadt, um eine von Gouverneur Jonah Jang verkündete Ausgangssperre durchzusetzen. Ihr Befehl lautet, jeden potenziellen Unruhestifter umgehend zu erschießen.

Begonnen hatten die Massaker am Donnerstagabend. Nach den Kommunalwahlen wurden die Stimmen zwar noch ausgezählt, doch unter Anhängern der oppositionellen All Nigeria Peoples Party (ANPP) kursierte bereits das Gerücht, dass der wichtige Wahlkreis im Norden von Jos verloren sei - an die landesweit regierende People's Democratic Party (PDP). Während die ANPP vor allem als Partei der aus dem muslimischen Norden zugewanderten Bevölkerung gilt, die zu den ethnischen Gruppen der Hausa und Fulani gehört, ist die PDP traditionell die Partei der aus dem christlichen Süden stammenden Yoruba. In Jos mischen sich wie überall in Nigerias Zentralregion die Ethnien und Religionen.

Vorurteile zwischen den Bevölkerungsgruppen werden von Politikern in dieser Region immer wieder instrumentalisiert. Die so geschürten politischen Konflikte mündeten in Jos bereits in der Vergangenheit in blutige Straßenschlachten und Massaker zwischen Christen und Muslimen, zwischen Hausa und Yoruba. Bei Kämpfen zwischen christlichen und islamischen Milizen waren vor sieben Jahren mehr als tausend Bewohner von Jos ums Leben gekommen. Drei Jahre später wurde in Plateau der Ausnahmezustand verhängt, nachdem christliche Milizen zweihundert Muslime in der Stadt Yelwa brutal ermordet hatten.

Diesem Muster folgten auch die jüngsten Massaker. Als erstes steckte der wütende Mob in der Nacht zum Freitag mehrere Kirchen und Moscheen in Brand. Dann brach Chaos aus: Menschen wurden mit Macheten zerstückelt, zu Tode geprügelt oder an eilends errichteten Straßensperren angezündet. Tausende Häuser und Geschäfte gingen in Flammen auf, hunderte geparkte Autos wurden zertrümmert.

Mindestens zehntausend Bewohner flohen, vor allem die ärmsten: Christen aus vorwiegend von Muslimen bewohnten Slums brachten sich in Sicherheit in mehrheitlich christlichen Slums; Muslime flohen entsprechend in die andere Richtung. Andere verbarrikadierten sich in Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden.

Inmitten der Kämpfe verkündete der Vorsitzende der Wahlkommission, Gabriel Zi, die PDP habe nicht nur den Wahlkreis im Norden von Jos, sondern auch alle anderen sechzehn Wahlkreise gewonnen. "Die Wahlen waren fair, gerecht und transparent", sagte Zi. Dieser Auftritt fachte die Kämpfe, an denen längst militante christliche und muslimische Milizengruppen beteiligt waren, weiter an.

An einen Zufall glaubt kaum jemand in Jos. "Das war eine minutiös vorbereitete Attacke", urteilt etwa der Pfarrer Yakubu Pam. "Einige wenige gierige und unzufriedene Leute haben den Frieden der vergangenen Jahre aufgegeben und die Wahlen zu einem Kampf auf Leben und Tod erklärt." Wer aus seiner Sicht die Rädelsführer sind, lässt Pam gerne durchblicken: "Unsere muslimischen Brüder und Schwestern hatten ihre Autos längst weggeparkt, als die Unruhen begannen."

Der Präsident des obersten Rates für islamische Angelegenheiten, Sultan Sa'ad Abubakar, weist die Vorwürfe zurück und ruft seinerseits die Christen zur Ruhe auf: "Eine Politik des Hasses und der Ungerechtigkeit darf keinen Keil zwischen die Bevölkerung Nigerias treiben." Auch der Generalsekretär der Vereinigung nigerianischer Christen, Samuel Salifu, macht die Politik verantwortlich: "Wir sind es leid, immer die gleichen Krisen zu sehen, wenn einige Politiker in ihrem Eigeninteresse die religiöse Karte spielen." Damit spricht er aus, was viele Nigerianer denken: Christliche und muslimische Milizen werden von Politikern je nach Interessenlage eingekauft.

Die derart Gescholtenen lassen am Wochenende keine Reue erkennen, im Gegenteil. Die Vorsitzenden der unterlegenen Oppositionsparteien fordern eine Annullierung der Wahl und werfen der Regierung vor, die Massaker in Jos selbst organisiert zu haben. "Die Strategie ist doch glasklar", wettert der Parteisprecher des oppositionellen Action Congress, Alhadschi Lai Mohammed: "Die fälschen die Wahl und sorgen dann für Chaos, damit die Ergebnisse nicht hinterfragt werden können."

Die Regierung von Plateau bestätigt mittlerweile, mindestens fünfhundert Gewalttäter seien festgenommen worden. Zeitungen sprechen von mindestens dreimal so vielen. Viele hätten Militär- oder Polizeiuniformen getragen, sagt der Justizminister von Plateau, Edward Pwajok. Bewohner von Jos berichten, Polizisten hätten willkürlich das Feuer auf unschuldige Bewohner in mehreren Slums eröffnet. Auch einige hundert schwer bewaffnete Kämpfer sollen festgenommen worden sein. Sie hatten offenbar versucht, von außerhalb in die Stadt zu gelangen.

(Copyright Berliner Zeitung, 1.12.08)

Mittwoch, 19. November 2008

Fette Piratenbeute


Der 330 Meter lange Riesentanker "Sirius Star" ist eines der größten und modernsten Schiffe der Welt. Erst vor wenigen Monaten lief er vom Stapel und galt als absolut piratensicher. Selbst wenn der Tanker wie auf seiner jüngsten Fahrt mit voller Ladung tief im Wasser liegt, befindet sich die Reling immer noch so weit über dem Meeresspiegel wie ein mittleres Hochhaus. Noch nie ist ein Schiff dieser Größe Opfer von Piraten geworden. Doch mehr als 1.000 Kilometer von Somalias Küste entfernt, in Gewässern, wo zum ersten Mal somalische Piraten gesichtet wurden, griff eine Bande nun zu und machte den Fang ihres Lebens: An Bord der "Sirius Star" befinden sich zwei Millionen Barrel Öl, geschätzter Wert: mehr als 70 Millionen Euro. "Die haben den Jackpot geknackt", sagt Andrew Mwangura von Kenias Seafarer Association, der die Piratenüberfälle aufmerksam beobachtet.

Selbst der ranghöchste US-Militär in der Region, Marineadmiral Mike Mullen, ist beeindruckt: "Die sind wirklich gut. Gut bewaffnet und taktisch geschickt." Vermutlich von einem ebenfalls gekaperten nigerianischen Frachter aus gelang es den Piraten, an Bord des Tankers zu kommen. "Und wenn die erst mal drauf sind, kann man eh nichts mehr tun - dann haben sie ja die Geiseln in ihrer Gewalt", sagt Mullen. Die 25 Besatzungsmitglieder stammen nach Angaben der saudischen Eigner aus Großbritannien, Kroatien, Polen, den Philippinen und Saudi-Arabien.

Das US-Militär verfolgte zwar den Weg der "Sirius Star" an die nordsomalische Küste am Dienstag, ein militärisches Eingreifen wurde aber nicht in Erwägung gezogen, sagte ein Armeesprecher in Dschibuti, wo die US-Marine ihren Stützpunkt hat. Doch es scheint kaum vorstellbar, dass die USA die neue Dimension der Piraterie einfach hinnehmen werden. Nicht nur, weil das Öl an Bord der "Sirius Star" für die USA bestimmt war. Die anhaltenden Überfälle auf einer der bedeutendsten Schifffahrtsrouten der Welt, auf der jährlich 20.000 Schiffe zwischen Asien, Europa und den USA unterwegs sind, gefährden das Rückgrat der kriselnden Weltwirtschaft.

Derzeit befinden sich ein Dutzend Schiffe und 250 Besatzungsmitglieder in der Hand von somalischen Piraten. Nach dem Überfall auf die "Sirius Star" gilt es als noch wahrscheinlicher, dass große Reedereien den Golf von Aden meiden und im großen Bogen die Alternativroute um das Kap der Guten Hoffnung einschlagen. Das würde jedoch drei Wochen mehr Reisezeit und damit eine Verteuerung so gut wie aller auf der Strecke bewegten Importgüter bedeuten.

Doch auch das bisher deutlichste Zeichen eines gemeinsamen Vorgehens gegen die Piraten, drei Kriegsschiffe unter Nato-Befehl, denen im Dezember eine EU-Mission folgen soll, haben bisher das Geschäft mit der Piraterie nicht stoppen können. Zu groß ist die Anziehungskraft der Boombranche im ansonsten in Schutt und Asche liegenden Somalia, das seit 1991 keine Regierung, keine Polizei und auch keine Küstenwache mehr hat. Wo noch vor zwei Jahren allenfalls armselige Fischerhütten standen, bauen die neureichen Piraten heute Villen. Vor den Baustellen parken Geländewagen der Luxusklasse. Kein anderes Geschäft ist derzeit so lukrativ, und die Gefahr schreckt im bürgerkriegsgeschüttelten Somalia niemanden. Im semiautonomen Puntland ist die Piraterie so zum mit Abstand wichtigsten Wirtschaftssektor avanciert. Fünfzig Millionen Dollar Lösegeld, so die Prognose allein für dieses Jahr, sind doppelt so viel wie der Etat der puntländischen Regierung.

In Piratennestern wie Eyl, das Piraten schon seit Jahren als Unterschlupf dient, hat sich eine rege Dienstleistungsindustrie entwickelt: Sobald die eigentlichen Piraten - selten mehr als zehn Mann - ein neues Schiff gekapert haben, läuft eine wohl geölte Maschinerie an, berichtet ein somalischer Journalist, der nur Mohammed genannt werden möchte. "Männer ziehen Anzüge und schicke Schuhe an, werfen Laptops in ihre Landcruiser und fahren zum Hafen, um auf die ankommende Besatzung zu warten." Die einen erklären sich flugs zu Verhandlungsführern, andere zu Finanzverwaltern. Im Dorf warten Köche darauf, das lukrative Catering für die Geiseln zu übernehmen. "Wer schießen kann, übernimmt Wache: gut 50 auf dem Schiff, noch mal 50 davor." Jeder Helfer wird entlohnt, sobald das Lösegeld fließt.

Doch auch die Piraterie hat, wie alles in Somalia, einen politischen Hintergrund. Jedes Lager verdient mit am Millionengeschäft: Harardere, wo die "Sirius Star" am Dienstag angeblich festmachte, ist das Territorium des berüchtigten Warlords Mohammed Abdi Hassan Afweyne, der sich in Interviews gerne mit seinen erfolgreichen Schiffsentführungen brüstet. Im Hauptberuf rüstet Afweyne befreundete Warlords wie Hussein Farah Aydid mit Waffen aus Eritrea auf, die gegen die Übergangsregierung und ihre äthiopischen Verbündeten eingesetzt werden. Aufseiten der Übergangsregierung von Präsident Abdullahi Yusuf, der aus Puntland stammt, koordiniert der Geschäftsmann Mohammed Jama Furuh das Geschäft mit der Piraterie. Von den Islamisten verjagt, die mittlerweile weite Teile Somalias zurückerobert haben, baute Yusuf den Geschäftsmann Furuh wieder auf.

Die Millionen aus den Lösegeldern haben zudem eine neue, dritte Kraft aufgebaut, deren politische Zugehörigkeit vorerst noch unklar ist. Doch fest steht: Mit ihrem Geld und den vermutlich modernsten Waffen am Horn von Afrika ist ihr Einfluss groß. Und mit jeder Entführung wächst er weiter.

(Copyright die tageszeitung, 19.11.2008)

Samstag, 1. November 2008

Wir werden Präsident


"Neue Häuser brauchen wir", sagt einer der Bauern, die in Kogelo jeden Abend an der Bar stehen, einer aus Brettern zusammengenagelten Bude. "Im Heimatdorf des US-Präsidenten können wir doch nicht in Grashütten leben." In dem kleinen Dorf im Westen Kenias, wo die traditionell gebauten Hütten den staubigen Feldweg säumen und auf dem Marktplatz Ziegen meckern, fühlt man sich bereits als kollektiver Sieger. "Wir werden US-Präsident" heißt es dort, wo Barack Obamas Vater geboren wurde und begraben liegt und Obamas Großmutter bis heute ihren Mais anbaut.

Dass Obama seine "Heimat" erst kennenlernte, nachdem sein Vater gestorben war, und auch dann nur kurz, tut seiner Popularität hier keinen Abbruch. Im Gegenteil, sagt der Direktor der Dorfschule, Manas Njuyo: "Wenn wir nur ein Bild von ihm sehen, sind wir begeistert und freuen uns." Njuyos Schule heißt längst Obama-Schule, was ihre Beliebtheit deutlich vergrößerte. Seitdem sitzen nicht mehr 40, sondern 60 Kinder in einer Klasse. Auf den meisten Marktständen in Kogelo prangt Obamas Name, ungezählte Lieblings-Kühe, -Ziegen und -Hühner sind nach dem "verlorenen Sohn", wie ihn Kenias größte Tageszeitung Nation taufte, benannt.

Die 86-jährige Oma Sarah Obama hat schon früh wissen lassen: Wenn ihr Enkel es schafft, dann will sie bei der Amtseinführung im Weißen Haus dabei sein. "Ich kann doch auf keinen Fall verpassen, wenn mein Enkel Präsident der Vereinigten Staaten wird."

So viel Vorfreude steckt an. Weil die Welt inzwischen weiß, dass Obama eine Oma in Afrika hat, will die Welt auch live dabei sein, wenn sie am Mittwoch einen Freudentanz aufführt - oder ein langes Gesicht macht. Das glauben jedenfalls die Planer in den Redaktionen der großen Zeitungen, der Radio- und Fernsehanstalten aus aller Welt, die ihre Korrespondenten in die westkenianische Einöde beordert haben. "Das Imperial ist vollkommen ausgebucht", bescheidet der Portier im edelsten Hotel der nächstgelegenen größeren Stadt Kisumu jedem Anrufer. Grashütten zu filmen ist gut, übernachten will man lieber woanders.

"Da kommen mehrere hundert", prophezeit ein Techniker des britischen Rundfunksenders BBC, der das gesamte Dorf bereits vermessen hat. Ü-Wagen, mobile Schnittstudios oder fahrbare Satellitenschüsseln müssen nur noch ihren auf dem Plan eingezeichneten Parkplatz finden. "Dann norden die sich ein, und fertig ist die Laube", sagt der BBC-Mann.

Das Staunen über die blitzende Technik ist den Dorfbewohnern, von denen die meisten nicht mal ein Radio besitzen - geschweige denn Strom - längst vergangen. Die Journalisten aus dem Ausland sind "big business", darüber sind sich am Kneipentresen alle einig. Oder zumindest das einzige Business weit und breit, wo man "kidogo" - ein klein wenig - verdienen kann.

Wer wissen will, wo wie und wann Obama bei einem seiner Besuche gestanden, gesessen oder gelegen hat, der findet mit Sicherheit einen ortskundigen Führer, der mit Feuer und Flamme bei der Sache ist. Denn obwohl in Kogelo in den vergangenen Monaten immer mal wieder so viele Kamerateams herumstanden wie auf einem mittleren Hollywood-Set, ist den Bewohnern die gute Laune nicht vergangen.

"Die Welt soll sehen, wie wir uns freuen", ruft Henry, ein junger "Businessman" mit Fahrrad, dem kenianischen Privatsender KISS FM ins Mikro, der schon seit Tagen im Dorf präsent ist. Klar, irgendwie fand er es schon komisch, als kürzlich aus dem Nichts ein Scheinwerfer aufflammte und die Szenerie unter einem großen Mangobaum am Rande Kogelos erhellte, wo er gerade mit seiner Freundin knutschte. "Überall sind Kameras, alles wird gefilmt, und dann gibt es noch die Journalisten, die mit ihren Notizblöcken durch die Gegend streifen und nach irgendetwas suchen, was noch niemand aufgeschrieben hat", sagt Henry. Ein Dorf unter Belagerung sei Kogelo irgendwie, aber: "Cool ist es trotzdem." Wenn Obama gewinnt, will Henry feiern, "drei Tage und drei Nächte lang".

Die engere Familie hat sich unterdessen hinter den Zaun mit Pfeilern aus Beton zurückgezogen, der Oma Sarah Obamas Haus seit Neuestem umgibt. Neben dem schweren Tor stehen zwei Zelte für die sieben kenianischen Polizisten, die das Haus seit dem versuchten Einbruch bei Oma Sarah Anfang September rund um die Uhr bewachen. Auch Barack Obama ist da, als lebensgroße Pappfigur.

Das mediale Herz von Kogelo ist Familiensache: Wer Obamas Oma interviewen möchte, muss einen Übersetzer aus dem engeren Familienkreis akzeptieren. Bezahlen muss man dafür nicht. Gestritten wird in der Familie derzeit noch darüber, wo die 85-Jährige nach der Wahl auftreten soll: vor ihrem Haus, oder doch lieber drinnen. Bis das Ergebnis vorliegt, herrscht ohnehin Funkstille, gab Familiensprecher Said Obama, ein Onkel des Präsidentschaftskandidaten, gerade bekannt: "Wir wollen nicht, dass die Medien mit Aussagen der Familie den Ausgang der Wahl beeinflussen." Ein bisschen genervt sieht der hochgewachsene, hagere Mann dabei aus. Kein Wunder, schließlich ist nicht jeder Korrespondent so freundlich wie die kanadische Reporterin, die Oma Obama erstmal eine Handcreme aus dem westafrikanischen Mali überreichte.

Als im Vorwahlkampf - es war am Super-Tuesday - zwischen gut zehn Korrespondenten fast eine Prügelei darüber ausbrach, wer die fragile Oma zuerst interviewen dürfe - sie selbst war freilich nie gefragt worden -, riss Obamas Onkel Said erstmals der Geduldsfaden: "Wir bitten Sie, uns Ihren Besuch zumindest anzukündigen", sagte er damals.

Auch in Kenias Hauptstadt Nairobi ist Obama ein Star. Das dort gebraute "Senator"-Bier ist zum Lieblingsgetränk in den Slums avanciert. "Bitte ein Obama", so bestellt man die warmen Flaschen jetzt korrekt. "Vielleicht wird die Marke ja bald umbenannt und heißt dann President", spekuliert John, ein Souvenirverkäufer in der Innenstadt. Im Dauerstau auf Nairobis Straßen bietet er den Autofahrern längst nicht mehr den üblichen Krimskrams an, sondern T-Shirts mit der Aufschrift: "I love Obama". "Ein Bombengeschäft", sagt John. Aufkleber hingegen verkaufen sich nicht so gut, was daran liegen mag, dass fast jeder Autofahrer schon mindestens einen auf seinem Wagen kleben hat.

Der neueste Hit in Nairobi sind Karten für das Musical "Obama", das am Samstag Premiere in Kenias Staatstheater feiert und für das sich der Komponist George Orido von Obamas Lebensgeschichte inspirieren ließ. Die wenigen Vorstellungen über "Das Leben eines kenianischen Amerikaners in Tanz, Musik, Worten und Gesang" sind bis zum Wahltag schon ausverkauft.

Kein Wunder, dass auch Kenias generell eher ungeliebte Politiker sich im Erfolg von Obama sonnen wollen. Premierminister Raila Odinga, der nicht weit von Kogelo entfernt geboren ist, ließ kürzlich lancieren, er und Obama seien verwandt. Vor zwei Wochen dann schwebte er unangekündigt per Helikopter bei Oma Obama ein, die Medien hatte er gleich mitgebracht. Kein Pardon kennt die Regierung mit Obamas Kritikern: Als der Amerikaner Jerome Corsi sein Buch "Obama-Nation: Linke Politik und Personenkult" in Nairobi vorstellen wollte, wurde er noch am Flughafen abgeführt. Stundenlang saß er fest. "Wir wissen auch nicht, was wir mit ihm tun sollen", sagte ein Immigrationsbeamter. Irgendwo, angeblich ganz oben, fiel dann die Entscheidung: Corsi wurde ausgewiesen. Obamas Feinde sind in diesen Tagen auch Kenias Feinde.

In Kogelo ist man unterdessen schon dabei, für die Zeit nach der Wahl zu planen. Viele dort hoffen, dass der durch die Wahlberichterstattung noch einmal steigende Bekanntheitsgrad Kogelos das Dorf zu einem Ziel für Touristen machen wird. Für eine "etwas andere Safari" in die "Heimat" Barack Obamas, so sagen Reisebüro-Mitarbeiter in Nairobi jedenfalls, habe es schon so einige Anfragen gegeben.

(Copyright Berliner Zeitung, 4.11.2008)

Freitag, 31. Oktober 2008

Wo das Geld vom Himmel fällt


Wenige Tage vor Monatsende ist im Shop von Steven Eigowab wie immer wenig los. Die Regale sind leer, das kleine Lager auch. Doch das stört niemanden, denn durch die Tür, wo die trockene Mittagshitze sich mit der relativen Kühle des Ladens vermischt, ist seit dem Morgen kein Kunde gekommen. Eigowab zuckt mit den Schultern. "Kurz vor Monatsende ist es immer dasselbe: Alle warten auf neues Geld." Damit bezahlen die Kunden das, was sie im Lauf der vergangenen Wochen bei Eigowab haben anschreiben lassen. Mit dem Geld kauft Eigowab neue Waren, und der Kreislauf beginnt von vorne. Sorgen um die Kreditwürdigkeit seiner Kunden muss der Kaufmann sich seit Anfang Januar nicht mehr machen. Seitdem nämlich fließt das Geld in Otjivero garantiert.

In der 1.200-Seelen-Gemeinde gut 100 Kilometer östlich von Namibias Hauptstadt Windhuk erhält jeder Bürger monatlich 100 Namibia-Dollar, umgerechnet sind das acht Euro. Reich ist man damit nicht, aber leben kann man davon, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Tun muss man dafür nichts, es gibt keine Bedingungen und kein Kleingedrucktes. Wer in Otjivero lebt, bekommt das Geld. So einfach ist das.

Eigowab konnte es selbst kaum glauben, als vor mehr als einem Jahr der angesehene Bischof Zephania Kameeta im schäbigen Otjivero auftauchte und den Geldsegen versprach. "Ich habe das Misstrauen gespürt", sagt Kameeta. Der auf dem Dorfplatz versammelten Menschenmenge rief der 62-Jährige deshalb irgendwann zu: "Ich bin nicht den langen Weg aus Windhuk hierher gekommen, um zu lügen, dafür bin ich zu alt." Die Leute staunten, und Kameeta, eine Art namibischer Desmond Tutu, grinst noch heute über seine Spitzbüberei. Richtig ernst genommen, sagt Kameeta, haben die meisten ihn aber wohl erst, als Monate später die Zählung der Bürger begann. "Das Ganze war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, selbst die Helfer haben wir erst unmittelbar vor der Abfahrt aus Windhuk informiert", erinnert sich Dirk Haarmann, der gemeinsam mit seiner Frau Claudia das Projekt zum Grundeinkommen in Otjivero im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche Namibias begleitet.

Mit der Geheimnistuerei sollte verhindert werden, dass Verwandte und Bekannte in Otjivero einströmen, um von dem weltweit einzigartigen Modellprojekt zu profitieren. Denn nur wer am Stichtag registriert wurde und jünger ist als 60 Jahre, bekommt das Geld: Genau 930 Menschen. Rentner, die bereits eine staatliche Grundversorgung erhalten, bleiben außen vor. Ansonsten kriegt jeder das Grundeinkommen, vom Säugling bis zum Familienvater, vom Bettler bis zum Reichen. "Das Grundeinkommen befreit die Menschen vom täglichen Existenzkampf", erklärt Haarmann, der aus dem rheinischen Mettmann stammt und seit fünf Jahren in Windhuk lebt. "Hunger macht ökonomisch keinen Sinn", glaubt der Theologe, der auch Soziologie studiert hat. "Nur wer nicht hungert, wird wirtschaftlich aktiv und kann sich selbst aus der Armut befreien." Damit stützt er den Bericht einer staatlichen Kommission, die der namibischen Regierung schon vor sechs Jahren die Einführung des Grundeinkommens für jeden Bürger zur Lösung der sozialen Schieflage im Land empfohlen hat. "Aber die Regierung hat gezögert und gezögert, bis Kirchen, Gewerkschaften und Verbände gesagt haben: jetzt wollen wir einfach mal einen Feldversuch wagen." Bis Ende 2009 läuft das Modellprojekt in Otjivero.

Finanziell, so hat Haarmann ausgerechnet, wäre die flächendeckende Einführung des Grundeinkommens kein Problem. Das ehemalige Deutsch-Südwestafrika hat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas. Hier liegen die Diamanten förmlich in der Wüste herum, nur dass die Wüste von hohen Zäunen umgeben ist, Areale, die Sperrgebiete heißen. Deshalb ist die Schere zwischen Arm und Reich kaum irgendwo größer als in Namibia: Zwei Drittel der Namibier leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Drittel der unter Fünfjährigen ist mangelernährt. Maximal vier Prozent des Bruttosozialprodukts wären nötig, so glaubt Haarmann, um die Lage grundlegend zu ändern. Finanziert werden soll das Grundeinkommen über Steuern, die Reiche stärker belasten, und über Einsparungen: Weil jeder das Gleiche bekommt, sind keine Überprüfungen nötig, kein bürokratischer Überbau. Das macht das Grundeinkommen für den Staat attraktiv.

Einer der Profiteure in Otjivero ist John Thomason, der in der Morgensonne seine einjährige Tochter Hildegard auf dem Arm hält. "Ich kann jetzt einen alten Pick-up abbezahlen." Sein Hof ist übersät mit Ersatzteilen, mit Autos kennt Thomason sich aus. Doch das Kapital, mit seinem Wissen etwas anzufangen, fehlte ihm bisher. "Wenn Leute in die Stadt wollen, ins 50 Kilometer entfernte Gobabis, dann lade ich sie auf die Ladefläche und fahre sie dorthin." Zehn Namibia-Dollar verlangt er für die Hin- und Rückfahrt, bis zu zwölf Personen bekommt Thomason locker zusammen: wegen des Grundeinkommens gibt es auf einmal zahlende Kunden. In der ersten Woche nach der Auszahlung ist Thomason meist täglich unterwegs, den Rest der Zeit unternimmt er gelegentlich Botenfahrten nach Windhuk. Wenn er seine Kosten abrechnet, bleibt genug zum Leben und für das Schulgeld für seine drei anderen Kinder. "Mir geht es besser als früher", sagt der 43-Jährige. Da hat er wie die meisten in Otjivero gar keine reguläre Arbeit gehabt. Seine Frau hat auf den schmalen Streifen staubiger Erde, der das Dorf von den hohen Zäunen der benachbarten Farmen trennt, versucht, ein bisschen Gemüse anzubauen. Zu denen, die gewildert haben, will Thomason selbst nicht gehören, obwohl er Verständnis für die in der Nachbarschaft verschrienen Viehdiebe hat. "Die haben ja nicht wirklich gewildert, nur ab und zu eine Antilope oder so etwas ins Dorf gebracht."

So sehr als Dorf von Ganoven und Taugenichtsen war Otjivero verschrien, dass die Leute Haarmann vor Start des Projekts gefragt haben, warum er gerade diesen Ort für ein Modellprojekt ausgewählt hat. "Ein Pfarrer hat mich gewarnt: Dieses Dorf ist ein Krebsgeschwür, geht da nicht hin", erinnert sich Haarmann. Inzwischen, berichten manche Dörfler stolz, seien die Farmer von nebenan ab und an gar bereit, Leute aus Otjivero als Erntehelfer oder Handlanger einzustellen. "Das wäre früher nicht möglich gewesen", frohlockt Steven Eigowab. Eigowab ist Chef des 18-köpfigen Komitees, das die Dorfbewohner kurz nach der Zählung gewählt haben. Die Idee hatten sie selbst, "um das Projekt zum Erfolg zu machen", sagt Eigowab. Das Komitee half mit, bei der ersten Geldausgabe Ordnung zu schaffen: Sonst wären viele der Wartenden wohl zertrampelt worden bei dem Ansturm auf die Kasse. Inzwischen weiß jeder, dass genug Geld für alle da ist. Das zweite Problem ist delikater: die richtige Verwendung. "Wir wollen nicht, dass alle ihr Geld gleich am Ausgabetag versaufen." Genau das nämlich werfen die Kritiker dem Projekt vor: den Untätigen werde Geld in den Rachen geworfen. Anstatt Arbeit zu belohnen, werde Untätigkeit finanziert. Und tatsächlich feierten die 13 Kaschemmen, Shebeens heißen sie hier, am Abend des ersten Ausgabetags das Geschäft ihres Lebens. Wegen Alkoholismus und "ungebührlichen Verhaltens" nahm die Polizei ein paar Bewohner mit in die Ausnüchterungszelle. Andere trugen ein paar Tage später stolz ein neues Handy oder anderes Konsumgut zur Schau. "Aber spätestens wenn einer den Nachbarn um einen Kredit angehauen hat, kam die Antwort: wieso, du hast doch auch deine 100 Dollar bekommen", so Eigowab. Am Zahltag Nummer zwo sei es entsprechend ziviler zugegangen. Das lag vielleicht auch daran, dass Eigowab und sein Komitee nicht müde wurden, an den Tagen davor warnend von Haus zu Haus zu ziehen: verschwendet nicht euer Geld.

Der Zwischenbericht, den Bischof Kameeta unlängst der namibischen Regierung vorlegte, zieht für die ersten sechs Monate eine fast enthusiastische Bilanz. Der Prozentsatz mangelernährter Kinder ist demnach von 42 auf 17 Prozent gefallen. Die Zahl der Eltern, die Schulgeld bezahlen, hat sich verdoppelt: Statt bisher 40 brechen nur noch fünf Prozent der Kinder die Schule ab. Auch Gesundheit steht ganz oben auf der Prioritätenliste: Die Zahl derjenigen, die vier Dollar für einen Arztbesuch auf den Tisch legten, hat sich seit Januar verfünffacht. Das für die Nachhaltigkeit des Projekts vielleicht wichtigste Ergebnis: Mit ihrer Arbeit ist es den Bewohnern gelungen, ein Gesamteinkommen zu erzielen, das über der Summe des ausgezahlten Grundeinkommens liegt. Die Kriminalität in und um Otjivero ging unterdessen um 20 Prozent zurück.

Mit solchen Argumenten, hofft Haarmann, wird man die Regierung von einer Ausweitung des Projekts überzeugen können - trotz kraftvoller Gegenspieler, allen voran der Internationale Währungsfonds. "Die haben der Regierung die Kosten für das Grundeinkommen künstlich hochgerechnet und das mir gegenüber so begründet: wir sind halt gegen das Prinzip", ärgert sich Haarmann bis heute. Im einst so gefürchteten Otjivero mehren sich hingegen andere Sorgen. "Uns geht es jetzt gut", flüstert Joseph Kanep, der vom Grundeinkommen gerade sein Haus repariert. "Aber wir müssen uns schützen vor Schmugglern, Drogendealern und Banditen, die uns den Reichtum nehmen wollen." Für den Aufschwung in Otjivero gibt es vielleicht keinen besseren Beleg als die neue Angst, die Kanep mit vielen seiner Freunde teilt.

(Copyright die tageszeitung, 31.10.08)

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Panik in Goma


Erst sah in Goma alles aus wie an einem ganz normalen Tag. Zwar wurde nur zwanzig Kilometer von der Innenstadt entfernt gekämpft - Truppen unter dem Mandat der Vereinten Nationen versuchten gemeinsam mit der kongolesischen Armee die Milizen des berüchtigten Rebellengenerals Laurent Nkunda zurückzuschlagen. Doch die Menschen in der Provinzhauptstadt Goma sind an Krisen gewöhnt. Also gingen die Kinder zur Schule, Läden waren geöffnet, die Märkte gut besucht.

Aber dann brach Chaos aus. "Das Gerücht ging um, dass die Front gegen Nkunda zusammengebrochen sei, und plötzlich begannen alle zu laufen wie die Hasen", berichtet Georg Dörken von der Deutschen Welthungerhilfe, der seit 15 Jahren in der Region tätig ist.

Chaotische Szenen spielen sich ab, als Soldaten mit vorgehaltener Waffe Lastwagen beschlagnahmen, um vor den Rebellen zu fliehen, andere in Panik mit ihren Panzern Autos überrollen. Während die Uno alle internationalen Hilfsorganisationen auffordert, die Stadt sofort zu verlassen, bleiben die Bewohner ohne Schutz durch die kongolesische Armee zurück. Am Abend verbreitet sich das Gerücht, die Regierung in Kinshasa wolle die Stadt kampflos an Nkunda übergeben.

Bis dahin hatte die Ankündigung des Rebellensprechers Bertrand Bisimwa, Goma erobern zu wollen, noch voreilig geklungen. Denn der Vormarsch der Rebellen stockte, nachdem UN-Blauhelme am Dienstagnachmittag mit einer Offensive bei Kibumba, gut 20 Kilometer vor Goma, begonnen hatten. Alan Doss, Leiter der UN-Mission im Kongo (Monuc), warnte da allerdings schon: "Wir bleiben, wir werden die Städte verteidigen, aber unsere Truppen sind am Ende ihrer Kräfte angelangt und wir brauchen dringend Verstärkung." Auf die Aufstockung der mit mehr als 17 000 Soldaten weltweit größten UN-Schutztruppe konnte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aber bisher nicht einigen.

Dabei warnen Hilfsorganisationen angesichts der enormen Zahl von Flüchtlingen vor einer Katastrophe. Viele hatten sich in den vergangenen Tagen zu Fuß aus den umkämpften Gebieten aufgemacht, um in Goma Sicherheit zu finden. "In unseren Feldlazaretten arbeiten die Ärzte rund um die Uhr", sagt Clio van Cauter, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Goma. "Wir können nicht sagen, wie viele Flüchtlinge es genau sind, aber es sind sehr viele." Auf mehr als 800 000 hat die Uno die Zahl der Vertriebenen im Ost-Kongo Anfang des Jahres geschätzt. Dass die Zahl jetzt über die Millionengrenze steigt, ist wahrscheinlich.

Viele von ihnen sind schon länger vor den brandschatzenden und marodierenden Milizen auf der Flucht. Denn Nkunda, ein Tutsi mit kongolesischem Pass, hält die Region seit Jahren in Atem. 2004 marschierten er und seine Männer in Bukavu ein, der größten Stadt am südlichen Ende des Kivu-Sees. Unter den Augen von untätigen Blauhelm-Soldaten plünderten, vergewaltigten und mordeten Nkundas Leute, um sich dann zurückzuziehen. Die Blauhelme erklärten später, ihr Mandat habe kein Eingreifen zugelassen. Seither führt der "Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes", wie sich die Rebellentruppe schwülstig nennt, einen Guerillakrieg mit der Regierungsarmee, die selbst aus früheren Rebellen zusammengestückelt ist. Seine Hochburgen hat Nkunda in besonders unzugänglichen Gegenden der weitläufigen Region, in den Bergen nordwestlich des Virunga-Nationalparks und entlang der kongolesisch-ugandischen Grenze.

Was genau Laurent Nkunda mit seinem Kampf im Osten Kongos erreichen will, ist umstritten. Er gehört zu den Generälen, die im Kongokrieg für die einst mächtige "Sammlungsbewegung für ein demokratisches Kongo" (RCD Goma) gekämpft haben. Zwischen 1998 und 2003 kontrollierte seine Armee im Auftrag Ruandas die reichen Minen im Ostkongo. Als der Krieg zu Ende war, an dem zeitweise acht afrikanische Armeen beteiligt waren, sammelten sich um Nkunda diejenigen, die nicht - wie in den Friedensverträgen vorgesehen - in die kongolesische Armee integriert werden wollen. Und diejenigen, die wegen ihrer Kriegsverbrechen Angst vor Prozessen hatten.

Doch das ist nicht alles. Kaum jemand zweifelt daran, dass hinter der größten Offensive Nkundas seit der Einnahme von Bukavu Kongos winziger Nachbar zum Osten steckt: Ruanda. Am Mittwoch mehrten sich Augenzeugenberichte, nach denen ruandische Truppen selbst an den Kämpfen beteiligt waren. Demnach sollen ruandische Panzer Stellungen der kongolesischen Armee im Norden von Goma beschossen haben.

Nkunda selbst begründet seine Feldzüge damit, er wolle die Tutsi im Ost-Kongo schützen und die für den Völkermord in Ruanda verantwortlichen Hutu-Extremisten dorthin zurücktreiben, wo ihnen der Prozess gemacht werden soll. Tatsächlich wären so nah an der Grenze verschanzte Hutu-Milizen für den ruandischen Präsidenten Paul Kagame, dessen Tutsi-Armee 1994 die militanten Hutu erst nach dem Völkermord an mehr als 800 000 Tutsi und moderaten Hutu vertreiben konnte, ein Sicherheitsrisiko.

Die wahren Motive für Ruandas mutmaßliche Unterstützung könnten jedoch andere sein. "So lange im Ost-Kongo gekämpft wird, kann Ruanda ungestört die Minen in der Region ausbeuten und auf dem Schwarzmarkt Millionen damit machen", sagt ein Mitarbeiter einer großen deutschen Hilfsagentur in Kinshasa. Im Osten Kongos ballen sich Vorkommen wertvoller Mineralien wie Gold, Kobalt und Kupfer. Und noch ein in Ruanda knappes Gut gibt es: Land. "Gerüchte besagen, dass Ruanda die Kivu-Provinzen annektieren könnte, sobald Nkunda sie unter Kontrolle gebracht hat", sagt Georg Dörken von der Welthungerhilfe. "Beweise hat niemand, aber in Ruanda gibt es eine Bevölkerungsexplosion, Land ist jetzt schon äußerst knapp."

Die Menschen in Rutshuru, der Stadt, die den Rebellen schon am Mittwochmorgen in die Hände fiel, haben ihre Heimat lange nicht mehr gesehen. Wer hier ist, hat seinen persönlichen Alptraum schon hinter sich. In den Flüchtlingslagern nahe der Grenze zu Uganda leben Zehntausende, die in Panik vor den Milizen geflohen sind. Viele wurden von Nachbarn oder anderen Flüchtlingsgruppen gewarnt, als sie auf den Feldern arbeiteten, oder sind bei Nacht und Nebel aus dem Haus gerannt wie Mary, die vor einem Jahr mit ihrem kleinen Sohn im Kusasi Camp, einem der Lager von Rutshuru, ankam. "Wir haben nichts retten können, meinen Bruder und meinen Mann habe ich auf der Flucht verloren", sagt die junge Frau. Ihr Sohn wimmert im Fieber der Malaria, gegen die Mary ihn in den Behelfshütten aus Stroh und Plastikplanen nicht schützen kann. Mary hatte Glück: Vergewaltigung, Misshandlungen oder Folter, von denen die meisten Flüchtlinge berichten, blieben ihr erspart. Doch seit die Nkundas Truppen die Kontrolle in Rutshuru übernommen haben, sind die Vertriebenen wieder heimatlos. Während hinter ihnen humanitäre Einrichtungen geplündert und in Brand gesteckt werden, versuchen sie, jenseits der Grenze in Uganda Schutz zu suchen.

Bei den Geschundenen des Ost-Kongo, die in der einst reichsten Provinz des Kongo leben, macht sich nach mehr als zehn Jahren Krieg Hoffnungslosigkeit breit. Erst vor einigen Wochen legten einige lokale Abgeordnete ihr Mandat nieder und schlossen sich Nkundas Rebellenarmee an. Zwar überwiegt bei weitem die Abneigung gegen Nkunda, der von den Kongolesen als Marionette Ruandas betrachtet wird. Doch es sind nicht nur seine Truppen, die die Bewohner rund um den Kivu-See zittern lassen. Soldaten der kongolesischen Armee sind für ihre Brutalität ebenso bekannt wie für ihre Disziplinlosigkeit. Erst am Dienstag raubten sie Mitarbeitern der Caritas bei der Verteilung von Hilfsgütern Uhren, Geld und Kreditkarten. Dass die Regierungstruppen ihren Standpunkt nördlich von Goma aufgeben mussten, überraschte niemanden, ebenso wenig wie die Erklärung, dass jeder Soldat nur hundert Schuss Munition gehabt habe. "Die haben kein Geld, kein Essen, keine Ausrüstung", fasst ein kongolesischer Geschäftsmann in Goma zusammen. "Kein Wunder, dass man hier sagt: Die kongolesische Armee kennt nur den Rückwärtsgang."

Die UN-Blauhelme kommen in der Bevölkerung kaum besser weg: Gerade erst mussten hundert indische Soldaten abgezogen werden, weil sie sich an minderjährigen Mädchen vergangen hatten. Eine im April bekannt gewordene Untersuchung wirft den Blauhelmen gar vor, mit illegal geschürften Mineralien gehandelt und Rebellen mit Waffen versorgt zu haben. Kein Wunder, dass aufgebrachte Kongolesen am Dienstag das UN-Hauptquartier in Goma mit Steinen bewarfen. Auch in Rutshuru wurden Blauhelme von wütenden Flüchtlingen angegriffen, als sie fünfzig ausländische Helfer in Sicherheit brachten - und sonst niemanden.

(Copyright Berliner Zeitung, 30.1.08)

Montag, 6. Oktober 2008

Zwei Ziegel vor, drei Ziegel zurück


Wie er so braungebrannt mit löchrigem T-Shirt und kurzer Hose vor seinem selbstgebauten Haus steht, sieht er aus wie Robinson Crusoe, gestrandet an einem Ort, wo die Alltagsgesetze seiner alten Heimat keine Gültigkeit haben. Doch nach drei Jahren hat sich Martin Grütters an vieles gewöhnt, was im südsudanesischen Rumbek anders ist. Zumindest nimmt er es hin. "Seit ein paar Tagen versuche ich, meine Bauarbeiter zu erreichen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann sagt er ganz schnell ,Okay, bye'." Okay bye, das heißt in Rumbek so viel wie: Vergiss es. Und das ist eine schlechte Nachricht für den Architekten, der versucht, auf zwei Baustellen so viele Fortschritte wie möglich zu erzielen, bevor die Regenzeit hereinbricht und alle Arbeit endgültig ruht. Doch langsam geht es in jedem Falle. "Was die Handwerker dir hier als Arbeitszeit in Wochen voraussagen, nimmst du lieber gleich in Monaten."

Vor fünf Jahren war Rumbek kaum mehr als eine Garnison: Die "Volksbefreiungsarmee" des Südsudan hatte hier ihre wichtigste Basis im mehr als zwanzigjährigen Krieg gegen sudanesische Truppen aus dem Norden. Bombenkrater prägen noch heute die unbefestigten Straßen. Im Regen verwandelt sich Rumbek in eine schlammige Seenlandschaft. Drei Jahre, nachdem die Anführer der afrikanisch-christlichen Ethnien im Süden Frieden mit der Regierung im islamisch-arabisch geprägten Norden geschlossen haben, ist von Entwicklung kaum etwas zu sehen - trotz Millionenhilfen aus Europa und den USA und trotz der Ölvorkommen, von denen die autonome Regierung des Südsudan auch profitiert. Rumbek ist seit dem Frieden gewachsen, mehr als 200 000 Bewohner hat die Stadt heute. Doch die Infrastruktur ist die gleiche, die während des Kriegs notdürftig ein paar tausend Soldaten versorgt hat. Statt Häusern stehen Tukuls über die Stadt verteilt, die traditionellen Rundhütten aus Stroh mit einem einzigen Raum, in dem das ganze Leben stattfindet. Latrinen stehen oft Kilometer entfernt.

Warum Martin Grütters Anfang 2005 sein einträgliches Büro in Berlin gegen ein Leben in dieser Halbwüste getauscht hat, wo es keinen Strom, keine Wasserleitungen und auch sonst sehr wenig gibt, kann er selbst nur schwer erklären. "Kein Gehalt zu beziehen, vermittelt mir ein besseres Lebensgefühl", setzt er an und erinnert sich an seine Zeit als selbstständiger Architekt in Berlin: "Beim Rechnungenschreiben hatte ich immer ein schlechtes Gefühl. Am besten ging es mir, wenn ich einen Tag pro Woche in einem Jugendzentrum der Caritas gearbeitet habe." Ohne Bezahlung. Nicht einmal Fahrgeld durfte die Caritas erstatten. "Ich bin sowieso meist mit dem Fahrrad gefahren." Von Tempelhof nach Lichtenberg und zurück.

Fahrradfahren ist die vielleicht größte Leidenschaft des 45-Jährigen. Auch in Rumbek fährt er auf einem Mountainbike zu seinen Baustellen, während die meisten Entwicklungshelfer in weißen Landrovern über die Pisten rasen.

Als Grütters an diesem Morgen sein Fahrrad an der Schule Mabor Ngap parkt, erlebt er eine Überraschung: Es wird gearbeitet. Fünf Zimmerleute ziehen eine Mauer. Grütters grüßt, läuft durch den Rohbau, gestikuliert, zeigt auf die Stricke, die den Verlauf der künftigen Wände abstecken und als Lot fungieren sollen. "Wenn man hier eine Mauer zieht, muss man schon mal mit zehn Zentimetern Toleranz rechnen", kommentiert er später den Baufortschritt.

Aber vor allem ist er glücklich, dass es weitergeht. Dass mehr als zwei Jahre nach Grundsteinlegung überhaupt schon Klassenräume stehen, in denen unterrichtet wird, scheint unglaublich, wenn man die Geschichte des Baus hört. "Einmal war ein Vertragspartner zwei Monate lang verschwunden", erinnert sich Grütters. "Später stellte sich heraus, er hatte einen Verkehrsunfall in der Nachbarstadt und saß zwei Monate im Gefängnis. Niemand, nicht einmal die Familie, wusste davon." Mit dem Nachfolger hatte Grütters noch mehr Scherereien. "Er hat die Frau seines Onkels verführt, und dieser wartete danach zwei Wochen lang mit der Kalaschnikow im Anschlag vor der Hütte des Übeltäters."

Blutrache ist im Südsudan nichts Ungewöhnliches. "Eines Nachts kam der Arme zu mir und bettelte mich um 200 Dollar an für ein Flugticket, damit er dem Onkel entfliehen kann." Schließlich einigten sich die Streitenden gütlich: Sieben seiner besten Kühe musste der Verführer seinem Onkel überlassen. Bis diese Abmachung getroffen war, lag die Baustelle wochenlang brach.

In solchen Fällen oder wenn die Bauarbeiter mal wieder nicht da sind, arbeitet Grütters einfach alleine weiter. Eines Nachmittags, der Architekt schleppte schwere Dachträger auf den Dachstuhl eines neuen Schulgebäudes und hämmerte sie fest, wurde es selbst dem Westfalen zu viel. "Die Lehrer saßen unterm Baum und haben zugeguckt, nicht mal den Hammer hat mir jemand gereicht." Er stieg vom Dach herunter und fuhr die Lehrerschar an, allesamt junge, kräftige Männer: "Kann mir hier vielleicht mal jemand helfen?" Gelacht hat niemand, aber erstaunte Blicke konnten die Lehrer nicht verbergen. "Aber Martin", sagte schließlich einer, "du weißt doch: man soll ohne Bezahlung nicht arbeiten." Dabei hätten die vom Staat bezahlten Lehrer ohne Martin Grütters keinen Job: Statt 120 Schüler wie vor drei Jahren hat Mabor Ngap heute zehn Mal so viele und entsprechend mehr Lehrer. Doch das feste Einkommen und der Stolz darüber, an der beliebtesten Schule der Stadt zu arbeiten, reichen nicht, um sich aus dem Schatten zu erheben. "Ich arbeite auch umsonst", rief Grütters. Die Verwunderung der Lehrer war ehrlich: "Wenn du das nicht willst, geh' doch nach Hause zurück." Den Nachmittag verbrachte Martin Grütters weiter hämmernd auf dem Dach - allein.

"Dankbarkeit erfahre ich hier nicht", bilanziert er. Auch nicht von den Eltern, die im Bürgerkrieg groß geworden sind und Schule eigentlich für Zeitverschwendung halten. Nur privat kann Grütters sich darüber freuen, dass heute ein gutes Fünftel der Schüler in Mabor Ngap Mädchen sind - auch das hat er geschafft. Manchmal fallen ihm die potenziellen Partner sogar in den Rücken: Weil sieben Klassen derzeit noch unter Palmen lernen müssen - in der Regenzeit fällt der Unterricht dann stundenlang aus -, wollte der Deutsche seine Spendengelder in den Bau neuer Klassenräume investieren. Doch die Schulbehörde stellte sich quer und forderte stattdessen ein Lehrerzimmer. Zähneknirschend gab Martin Grütters nach - und stoppte den Bau, als ihm 30 Sack Zement im Wert von mehr als 600 Euro von der Baustelle gestohlen wurden.

Es dauerte Wochen, bis die Schulbehörde überredet war, den Schaden zu übernehmen - und noch etliche mehr, um einen Laster aufzutreiben, der die Säcke vom nicht weit entfernten Lagerhaus zum Schulgelände bringen konnte. Lehrer oder Eltern halfen auch dieses Mal nicht. "Die haben gesagt: Was geht uns dein Zement an?", erzählt Martin Grütter ruhig. Aufzuregen scheint ihn das nicht. Seine Engelsgeduld ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um irgendwann ans Ziel zu kommen.

Weiter entfernt von seinem Lehrmeister Aldo Rossi, dem Mailänder Architekten, der die Form eines Gebäudes wichtiger als dessen Funktion fand, könnte Martin Grütters kaum sein als hier in Rumbek, wo er sich Stunden vor seiner Abreise nach Deutschland noch um Grundlegendes wie die Höhe der Wände für das Lehrerzimmer kümmern muss. Als er ins Flugzeug steigt, ist klar, dass er in ein paar Wochen auf unfertige Baustellen zurückkehren wird. Aber zurückkehren wird er, das ist sicher. "Ich schmeiße die Flinte nicht ins Korn, das bin einfach nicht ich."

Und dann zitiert er doch Aldo Rossi: "Einfachheit ist gut, hat er immer gesagt. Und das ist auch meine Lebensphilosophie." In Rumbek kann man damit weit kommen.

(Copyright Berliner Zeitung, 6.10.2008)

Freitag, 12. September 2008

Weltwunder in der Krise


Das Donnern des Sambesi, der hier mehr als 100 Meter in die Tiefe stürzt, ist ohrenbetäubend. 1,7 Kilometer sind die Viktoriafälle breit. Pro Minute brechen jetzt in der Trockenzeit rund 20.000 Kubikmeter Wasser spektakulär die schroffen Felswände herab, nach der Regenzeit sind es mehr als eine halbe Million. Den Titel "Weltwunder" tragen die Viktoriafälle zu Recht. Umso erstaunlicher, dass kaum noch jemand kommt, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen.

Nur knapp 30 Besucher haben sich seit Anfang September in das Besucherbuch eingetragen, das gleich hinter dem Eingang zum Victoria-Falls-Nationalpark ausliegt. Dabei sind nur hier, von der simbabwischen Seite aus, die Fälle in ihrer ganzen Pracht zu bestaunen. Die Katarakte im sambischen Nationalpark jenseits der Schlucht, die beide Länder trennt, sehen im Vergleich kläglich aus. "Alle sind hierhergekommen, um die Fälle zu sehen", erinnert sich Neva Makoni, der vor 30 Jahren in Victoria Falls geboren wurde. "Die Leute sind von Harare und Johannesburg nach Vic-Falls geflogen, haben hier ein paar Tage übernachtet, gut gegessen und auch sonst viel Geld ausgegeben." Doch diese goldenen Zeiten sind lange vorbei. Spätestens seit den Unruhen nach den Wahlen im März ist Victoria Falls vollends zur Geisterstadt verkommen. Vor dem Nationalpark versuchen die wenigen verbliebenen Souvenirverkäufer, den wenigen Besuchern simbabwische 100-Milliarden-Dollar-Scheine zu verkaufen - als wertloses Souvenir, für 1 US-Dollar. "Früher habe ich selbst Skulpturen aus Stein geschliffen und den Touristen verkauft, aber das habe ich inzwischen aufgegeben", erklärt Makoni. "Es lohnt sich nicht, wenn die Käufer fehlen."

Seit zwei Tagen läuft der 30-Jährige deshalb mit einer unhandlichen Plastiktasche durch die Innenstadt. In ihr steckt eine Steppdecke, die Makonis Frau fein säuberlich zusammengefaltet hat. "Ich will unsere Bettdecke verkaufen, um das Schulgeld für meinen Sohn bezahlen zu können." Im vergangenen Trimester, berichtet Makoni unglücklich, habe die staatliche Vorschule noch umgerechnet 10 US-Dollar verlangt. "Aber jetzt will sie 35, wo soll ich das ohne Arbeit hernehmen?" Zehn Kinder, sagt er, gehen heute noch in die Schule, wo vor ein paar Monaten noch 200 getobt und gelernt haben. Aber der Direktor weigert sich, die Gebühr zu senken. In ein paar Tagen wird die Einrichtung vermutlich ohnehin dichtmachen. "Die Lehrer haben einen Streik angekündigt, weil sie mehr Geld wollen." In der Zeitung wird der Chef der Lehrergewerkschaft zitiert: "In den 80ern konnten sich Lehrer ein Haus leisten, in den 90ern noch ein Auto, heute ist selbst ein paar Schuhe zu teuer." Makoni versteht die Lehrer: "Die meisten sind ja ohnehin schon nach Botswana oder Sambia geflohen, um dort zu arbeiten."

Nicht nur Arbeit ist ein Problem in Robert Mugabes Simbabwe. In dem Gewirr aus Hütten jenseits der Touristenstadt an der Ausfallstraße, wo Makoni lebt, gibt es seit Wochen kein trinkbares Wasser mehr. "Die Leute vom Wasserwerk sagen, sie können wegen der ständigen Stromausfälle das Wasser nicht mehr ordentlich klären", weiß der 18-jährige Tamele, der seinen Nachnamen aus Angst vor Verfolgung nicht nennen will. Hat er denn Strom? "Nein, der war schon lange vor dem Wasser weg." Ein Freund von ihm hat sich kürzlich den Arm gebrochen und ging ins Krankenhaus. "Da haben sie ihn gleich wieder weggeschickt: Wer hier einen Gips will, muss Mull und Gips selber mitbringen." Einen Tag hat es Tamele gekostet, um das Nötigste aufzutreiben. Weil die Vorräte in den Apotheken aufgebraucht waren, brachte eine Bekannte Mullbinden von der anderen Seite der Viktoriafälle aus Sambia mit.

Neva Makoni und Tamele sind Ndebele, wie Morgan Tsvangirai, der Oppositionskandidat, der im fast 1.000 Kilometer entfernten Harare um die politische Macht kämpft. Internationale Beobachter und die meisten Simbabwer sind sich einig, dass Tsvangirai die Wahlen im März gewonnen hat und die "Stichwahl" Ende Juni, die der senile Präsident Mugabe nach einer massiven Einschüchterungskampagne allein bestritt, gegenstandslos ist. Doch Mugabe will die Macht nicht aufgeben, und Tsvangirai bleibt stur. Dass ausgerechnet Südafrikas Präsident Thabo Mbeki, der als Verbündeter Mugabes gilt, zwischen den zerstrittenen Männern vermitteln kann, glaubt in dem Armenviertel am Stadtrand von Victoria Falls niemand. "Mugabe muss abtreten, sonst wird sich nichts ändern", ist Tamele wütend.

Die Ndebele haben es Mugabe nie verziehen, dass er kurz nach der Unabhängigkeit mit Militärgewalt einen Bürgerkrieg vor allem gegen die Ndebele und ihren politischen Führer, Joshua Nkomo, vorging. Mehr als 10.000 Ndebele wurden von einer in Nordkorea ausgebildeten Elitetruppe brutal getötet. Vor den juristischen Folgen dieses Massenmordes zittern heute noch Mugabegetreue in Politik und Militär. "Das ist der Grund, warum sie nicht nachgeben werden", gibt sich Makoni resigniert. "Sie werden Tsvangirai kaltstellen, und dann geht es weiter bergab."

Der Niedergang der einstigen Vorzeigeökonomie Simbabwe, wo die Inflation in diesem Jahr auf mehr als 11 Millionen Prozent geschätzt wird, ist in Victoria Falls auch deshalb so deutlich zu sehen, weil es sich um eine Kunststadt handelt, gebaut für die fehlenden Touristen. 300.000 Übernachtungsgäste zählte Victoria Falls noch 1995. Weil Investoren damals immer mehr neue Hotels bauen wollten, warnten Naturschützer vor schweren Folgen für die Umwelt, sollte sich die jährliche Besucherzahl wie prognostiziert bis 2005 auf fast eine Million erhöhen. Das Hotel Kingdom ist eines der letzten Auswüchse des damaligen Booms: ein monströser Koloss, angeblich der antiken Ruinenstadt Simbabwe nachempfunden. An deren Untergang wird man unweigerlich erinnert, wenn man mit lautem Echo durch die hohen, leeren Hallen in das zentrale Atrium läuft, eine von geschlossenen Restaurants umfriedete Ansammlung von Spielautomaten, die gespenstisch im Halbdunkel leuchten. Wo sind die Gäste? "Das sind Sie", strahlt der verloren wirkende Portier glücklich. "Sie sind derzeit der Einzige hier."

Wer heute überhaupt noch nach Victoria Falls kommt, der übernachtet in Sambia und kommt über die Stahlbrücke, die den unteren Sambesi überquert und beide Staaten verbindet. Ab zehn Uhr früh stürzen sich immer wieder Menschen von der Brücke in die Tiefe. Nicht aus Verzweiflung oder Not, sondern weil sie dafür bezahlt haben: Bungee-Jumping gehört zu den Attraktionen, mit denen sambische Reiseveranstalter vor allem junge Reisende nach Livingstone, dem sambischen Gegenstück zu Victoria Falls, locken. Auch Rafting, Paragliding und Abseilen gehören zu den Rennern. Mit dem Angebot rund ums Adrenalin haben die Sambier aus der Not eine Tugend gemacht. Zusammen mit der Simbabwekrise hat das in der einst verschlafenen Provinzstadt zu einem Bauboom geführt, der Victoria Falls alt aussehen lässt. Wer dennoch nach Simbabwe fährt, um die Fälle zu sehen, tut dies meist ein bisschen ängstlich. "Glaubst du, die lassen uns wirklich wieder raus?", fragt eine österreichische Urlauberin leise ihren Mann, während sie ein Einreiseformular ausfüllt.

Solche Sorgen haben die Simbabwer nicht, die jeden Morgen bei Sonnenaufgang den Weg über die Brücke bis zum ersten sambischen Spar-Supermarkt zurücklegen, zehn Kilometer von der Grenze entfernt. "Um sieben Uhr früh stehen bei uns schon Hunderte Schlange, die Brot kaufen wollen", stöhnt eine der Kassiererinnen, die gerade wieder eine Einkaufswagenladung Toastbrot durchzählt. 40 Stück hat John, einer der Händler, für etwa 50 Euro-Cent pro Stück gekauft. Das Geld zieht er vorsichtig aus seiner linken Socke. Vor der Tür packt er das Brot in große Kartons, dann stellt er sich zu den Simbabwern, die auf der anderen Seite des Parkplatzes auf ein Sammeltaxi warten. In Victoria Falls verkauft John das Brot - für 3 Euro pro Stück. "Ich zahle für das Brot und die Taxifahrt, und die Zöllner wollen natürlich auch Geld sehen." Weil es simbabwisches Brot schon seit Wochen kaum noch gibt, kauft es dennoch jeder, der es sich irgendwie leisten kann. Das Gleiche gilt für Zucker oder Maismehl, das in 25-Kilo-Säcken auf dem Kopf über die Grenze getragen wird. Der kleine Grenzverkehr gehört zu den Absurditäten in Mugabes Simbabwe: Er ist eigentlich verboten, aber jeder toleriert ihn, weil sonst alle hungern würden. Bis ins 500 Kilometer entfernte Bulawayo, Simbabwes zweitgrößte Stadt, und sogar nach Harare reichen die Wege der Kleinhändler, von denen kaum einer mehr als 20 Euro Startkapital hat. Wenn die Sonne rot glühend untergeht über den Viktoriafällen, verstauen sie säckeweise sambische Lebensmittel in den Nachtzug, der ins Landesinnere fährt.

(Copyright die tageszeitung, 12.9.08)

Montag, 8. September 2008

Süßer Tod


Wenn die Sonne den Nebel vertreibt, der am frühen Morgen den Fluss Tana bedeckt, verwandeln sich die Schatten am Ufer in Krokodile. In Gruppen von zehn oder mehr liegen die gelb-grünen Kolosse dort, wo die sumpfige Grasebene auf den Fluss trifft. Ihre scheinbare Behäbigkeit täuscht. Wenn ein unachtsamer Schlag mit dem Ruder die Stille durchbricht, rutschen selbst die wuchtigsten binnen Sekunden den leichten Abhang hinunter und tauchen platschend ins Wasser ein. "Da drüben, ein Mangroven-Eisvogel", lenkt Kazungu den Blick auf rostrot und blau leuchtendes Gefieder in einem Busch. Kazungu ist Führer in der Wildnis von Kenias Küste im Nordosten des Landes. Wer den italienisch dominierten Badeort Malindi mit dem Geländewagen verlässt und immer weiter Richtung Somalia fährt, der landet nach drei Stunden auf holprigen Feldwegen hier im Delta des Tana, der 800 Kilometer weiter westlich im Hochland entspringt und hier in den Indischen Ozean mündet. Viele sind es nicht, die sich hierher verirren.

"Bis vor ein paar Jahren haben die Shifta, somalische Banditen, immer wieder Raubzüge ins Delta hinein veranstaltet", weiß Kazungu, der seit 27 Jahren auf dem Fluss und seinen hunderten Nebenarmen zu Hause ist. Geboren ist der knapp 50-Jährige in Malindi, doch dorthin kehrt er nur zurück, um Benzin oder andere Zivilisationsgüter zu kaufen. "Ich brauche die Natur, die Stille, die Tiere hier draußen." Über den Fluss schwebt ein violetter Reiher, auf Baumstümpfen sitzen riesige Fischadler, auf einer Sandbank hat sich eine Gruppe von Nilpferden versammelt. "Wenn die Shifta-Überfälle etwas Gutes hatten, dann, dass es hier immer noch so aussieht wie vor Jahrzehnten", flüstert Kazungu, während er vorsichtig die Nilpferde umkreist. Doch mit dem Frieden im Tana-Delta könnte es schon bald vorbei sein. Denn wenn es nach dem Willen von Kenias größtem Zuckerproduzenten Mumias geht, werden die Moore und Feuchtwiesen in kurzer Zeit unter einer 20.000 Hektar großen Zuckerrohrplantage verschwunden sein - einer Fläche von der Größe Hannovers.

"Der Großteil der Ernte soll in Bioethanol verwandelt und als Treibstoff nach Europa verkauft werden", weiß Serah Munguti von der Umweltorganisation Nature Kenya. Die dazu nötige Fabrik soll gleich neben den Plantagen errichtet werden. Der aus dem Westen Kenias stammende Zuckerproduzent, der zu dem Projekt eisern schweigt, rechnet mit einem Riesengeschäft: Auch weil der Preis für Rohöl unaufhörlich steigt, prognostiziert Mumias in seinem Projektantrag einen jährlichen Gewinn von mindestens 1,2 Milliarden kenianischen Schillingen (umgerechnet 12 Millionen Euro). Solche Gewinne, sagt Munguti, sind nur realisierbar, weil die wahren Kosten für das Projekt nicht eingerechnet sind. "Mumias will gut ein Drittel des Flusswassers im Delta umleiten, um die Plantagen zu bewässern, mit katastrophalen Folgen für Natur und Bevölkerung." Weite Teile des Deltas würden trockenfallen, Habitate für bedrohte Tier- und Vogelarten verschwinden. Bauern, die ihre Felder nur mit Flusswasser bewirtschaften, säßen auf dem Trockenen. Mit Pestiziden getränkte Abwässer von den Feldern sollen zudem ungeklärt in den Fluss und damit in den Indischen Ozean eingeleitet werden, wo die vorherrschenden Strömungen das Gift gleichmäßig an den Badestränden Kenias verteilen würden.

Munguti und ihre Kollegen haben deshalb bereits eine Gegenrechnung aufgemacht: Die Gewinne aus Landwirtschaft, Viehwirtschaft und der Entwicklung von Ökotourismus in dem bedeutenden Vogeldurchzugsgebiet würden das Dreifache dessen einbringen, was Mumias verspricht. Doch weder Mumias, eins von Kenias größten Unternehmen mit einem Marktwert von fast 300 Millionen Euro, noch die Regierung in Nairobi hat sich bisher zu den Briefen geäußert, die die Umweltschützer seit Monaten schreiben. Selbst die im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung erhobenen Kritikpunkte sind bis heute unbeantwortet. Im Juni gab Kenias Umweltbehörde dennoch grünes Licht - nach einer dreimonatigen "Prüfung", von der Munguti sagt, dass ihr Ergebnis unrechtmäßig ist. "Wir haben gegen die Entscheidung geklagt, und wir gehen davon aus, dass wir Recht bekommen werden." Doch sicher kann man sich dessen in Kenia nicht sein. Der Spruch "Warum einen Rechtsanwalt bezahlen, wenn man den Richter kaufen kann" hat nicht umsonst bis heute Gültigkeit.

Doch nicht alle im Delta sind gegen das Projekt. Der Nordosten Kenias gilt als vergessener Landstrich. Seit Jahrzehnten sind hier nicht einmal die wenigen Straßen unterhalten worden. Wirtschaftshilfen flossen in die Heimatprovinzen der Präsidenten, das Hochland oder das Rift Valley, je nachdem. Dass sich jetzt diese Region zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit ein solches Großprojekt anbietet, begrüßt Ali Omar Buya ganz ausdrücklich. Der Ortsvorstehers von Shirigishu, einem Bauerndorf am Ufer eines mäandrierenden Nebenarms des Tana, wiederholt immer wieder seinen Wahlspruch: "Maendeleo, maendeleo, maendeleo", Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung - im westlichen Sinne. Auf das Dach seiner mit Wellblech gedeckten Lehmhütte hat Buya eine Satellitenschüssel montiert, noch ist sie die einzige im Dorf. An den beiden Kiosks, vor denen Jugendliche in Jeans und T-Shirt herumhängen, dröhnt die Rap-Musik eines lokalen Radiosenders aus scheppernden Lautsprechern. "Wir sind ein Dorf voller Arbeitslosen", beschreibt Buya die Lage. "Mumias hat uns Jobs versprochen, einen Job für jeden Mann im Dorf, und das ist es, was wir brauchen." Landwirtschaft und Handel, von jeher die Lebensgrundlage der sesshaften Pokomo-Volksgruppe, reichten nicht aus, um dem Dorf den verdienten Lebensstil zu sichern. "Das machen wir weiterhin, aber wir brauchen mehr Einkommensmöglichkeiten."

Für kenianische Verhältnisse ist das 1.000-Seelen-Dorf Shirigishu zumindest wohlhabend. Die vom Fluss bewässerten Reisfelder erwirtschaften ebenso gut verkäuflichen Überschuss wie die Felder für Mais, Bohnen und Spinat. Die in den vollen Korrals gehaltenen Ziegen sind fett und sehen gesund aus, und Fischer in ihren Kanus angeln genug Fische aus dem Tana, um den Tisch eines jeden Hungernden zu decken. Es gibt eine Schule und eine Krankenstation in Shirigishu. Doch nach westlicher Lesart sind die Bewohner arm: In den wenigsten Taschen klimpert Geld, und wenn, dann zu wenig. Das Zuckerrohr soll das ändern. "Natürlich wissen wir zwischen Worten und Taten zu unterscheiden", gibt sich der Dorfälteste Abdallah Moyo bedächtig. Die Mumias-Agenten seien im Dorf gewesen, hätten sich die Forderungen angehört und seien seitdem verschwunden. "Wir sind für das Projekt, aber nur, wenn auch wir tatsächlich profitieren."

Von Shirigishu bis nach Darga sind es zwei Stunden Gewaltmarsch durch den Sumpf. Doch wenn es um den geplanten Zuckerrohranbau geht, könnten die beiden Dörfer auch Lichtjahre voneinander entfernt sein. "Mumias will das Land, unser Land, und wir gehen leer aus", regt sich Rafu Bobo auf. Eingewickelt in einen karierten Kanga, dem traditionellen Bekleidungstuch an der Küste, sitzt er im Schatten der örtlichen Moschee auf einer Bastmatte. "Dieses Mumias-Volk ist vor ein paar Wochen in ein Nachbardorf gegangen, und die Bewohner haben sie einfach fortgejagt, so wie wir", grinst der zahnlose Alte. Beide Dörfer werden nicht von Pokomo, sondern von den Orma bewohnt, nomadischen Viehhirten, die vor Jahrhunderten aus Äthiopien ins Tanadelta gezogen sind. In Bobos Kultur dreht sich alles ums Rind. "Selbst wenn du Präsident von Kenia bist, Respekt haben wir nur, wenn du eine große Rinderherde besitzt", erklärt Mohammed Bocha, der Einzige im Dorf, der fließend Suaheli spricht. Früher wanderten die Orma mit Zelten durch das Delta, inzwischen sind sie halbsesshaft geworden. "Frauen, Kinder und Alte bleiben hier, während die jungen Männer mit den Herden durch das Delta ziehen." Überall am Tana sind sie zu sehen, die Herden, die nur wenige Meter von den Krokodilen entfernt Flusswasser saufen. Steht hier erst mal Zuckerrohr, ist es mit dem Tränken vorbei.

Für die Orma steht fest: Sie sind die wahren Besitzer des Landes am Fluss Tana. "Wir haben gegen die Shifta um dieses Land gekämpft, mehr als 400 unserer Männer sind dabei getötet worden", erklärt Bobo. Dass jetzt irgendwelche Männer in einer fernen Stadt ihre hart erkämpften Weiden mit einem Federstrich verkauft haben sollen, kann der Dorfchef kaum glauben. Urkunden wechselten den Besitzer, doch wer die Rechte am "Trust Land" verkauft hat, Land, das der Staat im Auftrag der Bewohner verwaltet und nicht verkaufen darf, ist bis heute ein wohlgehütetes Geheimnis. "Damit ist der lokale Abgeordnete zum Millionär geworden", glaubt Bocha zu wissen, und unwahrscheinlich ist das nicht. Das Weideland, das den Orma als Ersatz angeboten wurde, ist von Tsetsefliegen verseucht, die die gefürchtete Malaria übertragen. In dem Millionengeschäft spielen die Nomaden, deren Lebensweise fast alle sesshaften Kenianer für primitiv und rückständig halten, keine Rolle. "Wer nicht in einem Auto fährt oder in einem festen Haus wohnt, mit dem wird nicht verhandelt", bilanziert Bocha. Doch geschlagen geben will er sich dennoch nicht. "Wir haben die Shifta besiegt, wir werden auch die Invasion mit Zuckerrohr verhindern."

(Copyright die tageszeitung, 8.9.08)

Sonntag, 29. Juni 2008

Baustelle Südafrika


Wenn am Sonntag in Wien die Euro 2008 zu Ende geht, sind es nicht einmal mehr zwei Jahre, bis am 11. Juni 2010 in Johannesburg der Anpfiff zur ersten Fußball-WM auf afrikanischem Boden gegeben wird. Mehr als 400.000 Besucher aus aller Welt werden zu dem einmonatigen Spektakel erwartet. "Die WM in Südafrika wird eine Feier afrikanischer Menschlichkeit ", verspricht Chef-Organisator Danny Jordaan. Doch ob Afrikas "Regenbogennation" dieses Versprechen halten kann, bezweifeln selbst im eigenen Land immer mehr.

Der 24-jährige Maurice aus Simbabwe etwa, der bis vor einigen Wochen am Stadtrand von Johannesburg gelebt hat, will nach den Pogromen gegen Ausländer im Mai so bald nicht wieder nach Südafrika zurück. "Sie haben mich verprügelt, sie haben mein Haus geplündert und alles zerstört, was ich besaß." Mehr als fünfzig Immigranten kamen in den Unruhen im Mai ums Leben, zehntausende wurden wie Maurice bis heute vertrieben. Dass Polizei und Politik wochenlang nicht in der Lage waren, den Ausschreitungen ein Ende zu machen, bedrückt WM-Organisator Jordaan besonders. "Unser Land ist aus vollkommen falschen Gründen in die Schlagzeilen geraten."

Tatsächlich glaubt niemand, dass WM-Besucher in Südafrika Angst vor ausländerfeindlichen Übergriffen haben müssen. Doch hinter den Ausschreitungen steckt die riesige Schere zwischen arm und reich in Afrikas wohlhabendster Nation: Gut ein Drittel der Südafrikaner sind arbeitslos. Die Masse der ungelernten Arbeiter, die für vielleicht 250 Franken im Monat arbeitet, kann die steigenden Preise für Lebensmittel und Unterkunft kaum noch bezahlen. Auf dem Land kommt dazu, dass die versprochene Umverteilung von Land an schwarze Farmer bislang nicht stattgefunden hat. Kein Wunder, dass Kriminalität in Südafrika boomt. Mehr als 50 Morde pro Tag registrierte Südafrikas Polizei im vergangenen Jahr. "Die hohe Kriminalitätsrate droht Besucher davon abhalten, zur WM zu kommen", warnte kürzlich Tourismusminister Marthinus van Schalkwyk.

Anfang Juni gingen in Pretoria zehntausend Demonstranten gegen die wachsende Kriminalität auf die Straße. "Die neunjährige Tochter eines Freundes wurde vergewaltigt und dann ermordet, da musste ich etwas unternehmen", erklärt der Organisator Desmond Dube. Auch der Vorsitzende des südafrikanischen Fußballbundes, Raymond Hack, wurde vor einem Jahr Opfer eines Raubüberfalls. Doch Südafrikas Polizei glaubt, gewappnet zu sein: "Die meisten Morde geschehen in den Townships, Touristen sind sicher", so ein Sprecher. 30.000 neu eingestellte Polizisten sollen WM-Besucher schützen.

Kriminalität ist nur eines der Probleme, die Südafrikas Regierung bis 2010 bewältigen muss. Da sind die zehn Stadien, fünf davon Neubauten. "Alle Stadien werden bis Januar 2009 fertig sein", verspricht zwar der zuständige Vize-Finanzminister Jabu Moleketi. Doch Streiks auf den Baustellen und juristische Streitereien haben zu Verzögerungen geführt. "Mit den Stadien in Port Elizabeth und Kapstadt haben wir Probleme, das Zieldatum einzuhalten", gesteht Jordaan ein. Das vorgesehene Budget von umgerechnet knapp 1,3 Milliarden Franken sei zudem schon überschritten.

Noch schwerer vorherzusagen ist der Ausbau der für die WM nötigen Infrastruktur: In Bloemfontein etwa sind erst 6.500 der geplanten 20.000 Hotelzimmer verfügbar. Der Ausbau von Straßen und Flughäfen ist zwar im Gang, doch es fehlt immer noch an Bussen und Flugzeugen, um die Fußballfans durch das riesige Land zu transportieren. Ein Schnellzug, der die staugeplagten Straßen in Johannesburg entlasten soll, wird nach Plan erst 11 Tage vor WM-Beginn fertig - das ist mehr als knapp. Südafrikas Stromversorger hat unterdessen wegen fehlender Kraftwerke für die kommenden fünf Jahre großflächige Stromausfälle vorhergesagt. Im Januar hingen Touristen in der Seilbahn zu Kapstadts Tafelberg stundenlang in der Luft, weil der Strom weg war. Goldminen mussten ihren Betrieb einstellen.

Doch wenigstens Südafrikas größtes Potential ist intakt: Mit Herz und Begeisterung sind die Südafrikaner dabei, 85 Prozent glauben einer jüngsten Umfrage zufolge fest daran, dass ihre WM zu einem Riesenerfolg wird. "Für uns geht es um mehr als nur ein Sportevent, wir wollen ein neues Nationalbewusstsein schaffen", verspricht Jordaan einen Enthusiasmus, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.

(Copyright Der Sonntag, 29.6.08)

Donnerstag, 26. Juni 2008

König der Bettler


Nach seiner Niederlage im März war Robert Mugabe schon abgemeldet, jetzt ist er zurück. Und wenn man seinen Anhängern glauben will, wird er bleiben: bis zum bitteren Ende. Porträt eines Mannes, der die Macht in Simbabwe seit 28 Jahren nicht abgeben will.

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