Mittwoch, 27. Juni 2007

Sechs Kinder sind drei zu viel


Vor dem Büro von John Ruzibuka verpackt ein Wachmann Kondome in grell orangefarbene Pappschachteln. Beherzt greift er in den folienverschweißten Berg vor sich auf dem Tisch, eins, zwei, drei, wieder ein Paket fertig, das der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) in den kommenden Tagen irgendwo in Ruanda verteilen wird. "Die Bevölkerung nimmt explosionsartig zu", sagt Ruzibuka, der UNFPA-Landeskoordinator in Ruandas Hauptstadt Kigali. "Jede Ruanderin bekommt im Schnitt sechs Kinder." Seit den 50er Jahren hat sich die Bevölkerung in dem zentralafrikanischen Staat von der Größe Belgiens auf fast neun Millionen vervierfacht. Schon heute ist kein Land in Afrika so dicht besiedelt wie Ruanda. Rechnerisch teilen sich 343 Ruanderinnen und Ruander - die meisten davon Subsistenzfarmer - einen Quadratkilometer. Nach Ende des Völkermords im Frühjahr 1994 ist die Geburtenrate noch einmal drastisch gestiegen. Wenn sich nichts ändert, wird Ruanda bis 2030 seine Bevölkerung erneut verdoppeln. Dann wäre Land noch knapper als heute schon. "Wir geben den Leuten die Mittel, um ihre Geburten zu kontrollieren", sagt Ruzibuka. "Aber wir können niemanden zwingen, weniger Kinder zu haben."

Einem Genozid vorbeugen

Das sieht Earnest Rwamucyo anders. Er leitet den Planungsstab im ruandischen Ministerium für Wirtschaft und Finanzen. Rwamucyo propagiert eine "Drei-Kind-Politik", angelehnt an die "Ein-Kind-Politik", mit der China seit 1979 sein enormes Bevölkerungswachstum begrenzt hat. "Wenn wir es schaffen, die Geburtenrate um die Hälfte zu senken, dann werden wir die Armut doppelt so schnell bekämpfen können", hofft Rwamucyo. Größter Fürsprecher der gesetzlichen Geburtenbegrenzung ist Ruandas Präsident Paul Kagame, der einem neuen Genozid im Keim vorbeugen will. "Die alte Regierung hat Hass gesät mit der Behauptung, unser Land sei zu klein für alle", erklärte Kagame jüngst offiziell. "Wir haben immer versichert, das Land ist groß genug für jedermann - aber das kann nicht alle Ungeborenen mit einschließen."

Kagame hat ehrgeizige Ziele für Ruanda, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Bis 2020 soll Ruanda vom Entwicklungs- zum Schwellenland transformiert sein. Das Pro-Kopf-Einkommen soll sich auf 900 US-Dollar vervierfachen, das Agrarland Ruanda eine Dienstleistungsnation werden. Mit einem modernen, satellitengestützten Telefonnetz wirbt die Regierung für die Ansiedlung von Callcentern in Kigali. Dabei hilft, dass Englisch offizielle Zweitsprache ist. "Diese Ziele können wir nicht erreichen, wenn wir mehr Kinder ausbilden und mehr Menschen medizinisch versorgen müssen, als wir uns leisten können", so Rwamucyo. Deshalb will Ruanda als erster afrikanischer Staat aktiv die Geburtenzahl begrenzen.

Doch was aus Technokratenmund so logisch klingt, trifft vor allem Ruanderinnen oft mitten ins Herz. Geburtenplanung ist ein schwieriges Thema in einem Land, wo auch 13 Jahre nach dem Genozid viele Opfer noch nicht begraben sind. Zwischen 800.000 und einer Million ethnische Tutsi und moderate Hutu wurden in nur 100 Tagen brutal ermordet, unter ihnen zehntausende Babys und Kinder. Vor allem auf dem Land haben viele Menschen bis heute das Gefühl, ihre Familien wieder zu alter Größe bringen zu müssen. "Meine Mutter hatte zwölf Kinder", sagt etwa die Marktverkäuferin Maria Munyazaki. "Nach dem Völkermord waren zehn meiner Geschwister tot. Was wäre gewesen, wenn meine Mutter nur drei Kinder gehabt hätte?" In den Gehöften nahe der Zuckerrohrplantagen, die die Hügel über Gisenyi am Kivusee bedecken, entscheiden bis heute vor allem zwei Dinge über Ansehen und Respekt: Ein möglichst großes Feld - und viele Kinder. "Ich habe gerade meine dritte Tochter zur Welt gebracht", erklärt die 22-jährige Yolande stolz. "Wenn die Regierung ihren Willen durchsetzt, dann werde ich keinen Sohn mehr haben." Doch wenn nicht, dann kann sich Yolande gut vorstellen, es noch weiter zu probieren. "Ich habe so viele Freunde und Verwandte im Genozid verloren, dass ich nicht ganz einsehen kann, warum ich nicht mehr Kinder als nur drei haben soll." Für Nziranza, eine Nachbarin, ist das Ganze einfach eine Frage des Glaubens. "Gott hat gesagt: Gehet hin und mehret Euch. Wie viele Kinder man bekommt, ist allein Gottes Plan."

Eine Freundin von Yolande hat hingegen nie eine Wahl gehabt. "Ich ziehe elf Kinder groß", sagt Mama Rose, die Mitte 40 ist. "Nur zwei Söhne sind meine leiblichen - die anderen neun sind Waisen, Kinder von nahen und entfernten Verwandten, die irgendwo unterkommen mussten." Sie selbst hätte sich nie so eine große Familie ausgesucht, glaubt sie. "Alles ist knapp, alles ist teuer, so viele Kinder kann man einfach nicht ordentlich versorgen." Keines ihrer Kinder geht zur Schule - das Geld für Bücher, Transport oder Unterkunft kann sich die Farmerin einfach nicht leisten. So geht es vielen. Selbst in den Kirchen ist der Widerstand gegen die Drei-Kind-Politik der Regierung nicht so groß, wie man vermuten mag. Mehrere katholische Priester versichern (wenn auch anonym): Sie würden zwar nicht für eine Drei-Kind-Politik eintreten - aber auch nicht dagegen predigen. Die einst so mächtige katholische Kirche, die wegen ihrer Rolle im Genozid massiv an Einfluss verloren hat, legt sich generell ungern mit der Regierung Kagames an. Anders ist das bei den seit Jahren wachsenden Pfingstkirchen, die die Bibel wörtlich nehmen und jede Art von Verhütung als Teufelswerk verdammen.

Kondome sind unbeliebt

Eine der wenigen, die auch mit radikalen Christen über Familienplanung reden kann, ist Marie Mukabatsinda. Die füllige Mutter von zweien leitet ein Programm namens Awareness - Aufmerksamkeit. Ziel des Programms, das zu einem großen Teil vom konservativen US-Entwicklungsdienst USAID finanziert wird, ist die Verbreitung einer neuen Methode zur Familienplanung. Es ist eine Art Rosenkranz aus Plastik mit weißen, braunen und einer roten Kugel. "An den braunen Tagen ist die Frau nicht empfängnisbereit, an den weißen besteht die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft", erklärt Mukabatsinda. Jeden Tag wird der Plastikring eine Kugel weitergeschoben. So weiß die Frau, ob sie verhüten muss - oder nicht. Mediziner, die die Testreihe begleitet haben, bescheinigen der Methode in Ruanda so viel Erfolg wie der Anti-Baby-Pille. Sie ist leicht zu begreifen, auch für die, die weder lesen noch schreiben können. Der Einsatz der Kette, sagt Mukabatsinda, hat zudem positive Nebenwirkungen. "Frauen in Ruanda haben traditionell nicht zu widersprechen, wenn der Mann mit ihnen schlafen will", berichtet sie. Doch wo die Zyklus-Kette deutlich sichtbar über der Schlafstatt baumelt, bestimme immer häufiger die Frau, ob oder ob nicht. "Selbst in einfachen Bauernfamilien hat das die Beziehung ganz oft grundlegend verändert."

Natürlich gibt es auch andere Verhütungsmethoden - doch da gibt es ebenfalls Probleme: In Kigali, wo die Pille in manchen Apotheken zu haben ist, hält der hohe Preis die potenziellen Käuferinnen ab. "Viele Frauen haben außerdem Angst, dass Pille, Spirale oder Hormonspritzen sie auf Dauer unfruchtbar machen - das Risiko wollen sie nicht eingehen", erläutert Marie Mukabatsinda. Überhaupt werden seit dem Genozid in Ruanda kaum noch Verhütungsmittel benutzt, wie das Gesundheitsministerium mitteilt: Heute verhüten gerade einmal vier Prozent der Frauen. "Anfang der 90er waren es noch mehr als 13 Prozent, vor allem in den Städten, die eine moderne Verhütungsmethode benutzt haben." Marie Mukabatsinda glaubt, für diesen Rückschritt sei nicht nur das Trauma des Genozids verantwortlich. "In Ruanda stehen außer Kondomen kaum Verhütungsmittel zur Verfügung, und Kondome sind - nun ja, viele Männer wollen sie nun mal einfach nicht." Selbst die hohe Aids-Rate - die UN schätzen sie auf bis zu 10 Prozent, in den Ballungszentren deutlich höher - hat daran nichts geändert. Nur 28 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren haben beim letzten Sex mit einem Gelegenheitspartner ein Kondom benutzt, so eine aktuelle UNAIDS-Umfrage.

Ob die nun geplante Geburtenbegrenzung alleine ausreicht, um Ruanda den Weg in eine wirtschaftlich glänzende Zukunft zu ebnen, bezweifelt hingegen Alex Musila, der in Ruandas Nationaler Umweltbehörde zu nachhaltiger Stadtentwicklung arbeitet. "Belgien ist nur etwas größer als Ruanda und hat mehr als zehn Millionen Einwohner, aber kein Mensch käme auf die Idee, Belgien als ein überbevölkertes Land zu bezeichnen." Der Geograf hat ein anderes Rezept parat: Verstädterung. "Wenn wir es hinbekommen, dass ein Großteil der Bevölkerung vom Land in die Stadt zieht, dann können wir den Flächenbedarf pro Person reduzieren. Genauso hat sich Europa zu einem prosperierenden Kontinent entwickelt."

Noch zirkuliert die Drei-Kind-Politik als Entwurf im Parlament. Die Abgeordneten diskutieren darüber, ob es empfindliche Strafen für die geben soll, die zu viele Kinder bekommen - oder reichen positive Anreize für die Drei-Kind-Familie aus? Doch daran, dass die Drei-Kind-Regelung kommen wird, zweifelt niemand mehr. Selbst im afrikanischen Ausland wird diese Politik schon als Erfolgsmodell für den Rest des Kontinents gefeiert. "Die abnormal hohe Geburtenrate ist Afrikas größtes Entwicklungshemmnis und führt dazu, dass es auf Dauer weniger Verdienende als Abhängige gibt", sagt der ruandische Ökonom Kenneth Tayebwa. Überbevölkerung ist überall in Afrika ein heißes Thema: Die UN erwarten, dass sich die Zahl der AfrikanerInnen bis 2050 auf 1,8 Milliarden verdoppeln wird.

(Copyright die tageszeitung, 27.6.07)

Mittwoch, 20. Juni 2007

Privates ist privat, aber nicht im Autoradio


Kürzlich saßen mein kenianischer Freund Stan und ich in einer Bar beim Bier, und er erklärte mir, warum Kenianer an der Theke selbst nach der fünften Flasche Tusker zwar über Arbeit, Fernsehshows oder Politik sprechen, aber niemals über Privates. "Privates ist privat, das bespricht man nicht öffentlich, auch nicht mit guten Freunden." Was im Haus oder, im prüden Kenia, gar im Schlafzimmer geschehe, sei für die Außenwelt schlicht tabu.

Doch alle Prüderie verschwindet augenscheinlich, wenn der Zuhörer unsichtbar ist. Immer häufiger tönen aus meinem Autoradio (das aus mir unerfindlichen Gründen in regelmäßigem Rhythmus selbsttätig den Sender wechselt) unvermittelt intimste Geständnisse, die Hörerinnen und Hörer dem gierig nachfragenden Moderator per Handy anvertrauen. "Wir rufen Sie zurück" ist die Zauberformel, die dem oder der Anrufenden alle Zeit der Welt gibt, sich zu entblößen. Wie bei Mary, 32, wohnhaft in Eastleigh, das wegen der großen Flüchtlings-Community in Nairobi "Klein-Somalia" genannt wird. Mary hat das dringende Bedürfnis der ganzen Stadt mitzuteilen, dass ihr derzeitiger Lover Hassan aus Kismayo im Bett die Qualität eines russischen Schnellfeuergewehrs hat, sie ihm das aber niemals ins Gesicht sagen kann, weil er so stolz ist. Viel taktvoller natürlich, es ihm über UKW mitzuteilen, dachte ich - und an die Recherchen eines Kollegen, der kürzlich herausfand, dass ein Auftragsmord in Nairobi viel billiger zu haben ist, als wir immer gedacht hatten.

"Diese Radio-Geständnisse verletzen doch alle Traditionen", wettert auch mein Lieblingstaxifahrer Patrick, der den örtlichen Krawallsender gern besonders laut hört, während er mit seinen beiden Handys gleichzeitig telefoniert und sein Auto durch Nairobis Verkehrschaos wuchtet. Und ein wenig lauter stellt, als Janet sich per Telefon zu Wort meldet, in der täglichen Rubrik "Who do you dump", zu deutsch: Welcher Geliebte wandert heute in den Orkus. Wer sich schon immer gefragt hat, ob gewisse Körperzonen afrikanischer Männer größer sind als anderswo auf der Welt, erfährt jetzt von Janet, Kassiererin im Nakumatt Mombasa Road, Kasse 5, dass das bei ihrem Lover James jedenfalls nicht so ist, und noch einige Details dazu. An Kasse 5 wird Janet bis heute Abend außer schwitzigen Geldscheinen sicher noch einige zweideutige Angebote in Empfang nehmen, aber daran hat sie bei der Beichte durchs Telefon vielleicht nicht gedacht. Zumindest wundere ich mich nicht mehr, warum ich im Supermarkt oft so lange anstehe, während Kassierer sich verschwörerisch über ihr Handy beugen.

Schon warnt die Briefkastentante, die einmal die Woche in der Zeitung Nation auf altmodischem Wege Beziehungstipps gibt (und vermutlich um ihren Job fürchtet), vor den Spätfolgen der drei Minuten im Radio-Rampenlicht. "Wenn ihr wirklich mit jemandem über peinliche Privatgeschichten sprechen müsst, zahlt einen Psychiater, beichtet eurem Pastor oder im schlimmsten Fall: Redet mit euch selbst."

Für mich steht jedenfalls fest: Beim nächsten Bier mit Stan werde ich ihn nach seinen privatesten Beziehungsproblemen fragen und nicht locker lassen, bis ich alles weiß. So bin ich vor den schlimmsten Überraschungen gefeit, falls Stan sich in einer düsteren Stunde dazu entscheiden sollte, doch einmal bei seinem Lieblingsradiosender anzurufen.

(Copyright die tageszeitung, 20.6.07)