Donnerstag, 18. Dezember 2008

Colonel Tod tritt vor seinen Richter


Die Stufen, die in die Katakomben unter der Kirche von Ntarama führen, knarren in der Stille. Nur wenige Meter abwärts führt die schmale Treppe in eine kalte und staubige Gruft, in der die sterblichen Überreste tausender Opfer des Genozids von 1994 aufgebahrt sind. Särge stapeln sich an den Wänden, doch von den meisten Toten ist nicht mehr übrig geblieben als der Schädel. Wie groteskes Obst an einem Marktstand liegen sie auf Brettern aufgereiht.

Als im April 1994 die Verfolgung der Tutsi und moderaten Hutu begann, verschanzten sich die Verfolgten von Ntarama in der Kirche, weil sie sich dort sicher fühlten. Doch die Verfolger kannten kein Erbarmen: Sie warfen erst Granaten und stürmten dann das Gotteshaus. Mehr als 10 000 Menschen, so berichten die wenigen überlebenden Augenzeugen, wurden mit Macheten und bloßen Händen umgebracht. Im ganzen Land waren es bis zum Ende des Völkermords mindestens 800 000.

In Ntarama wurden so viele ermordet, dass auch heute, 14 Jahre nach dem Genozid, nicht alle Gebeine unter der Erde sind. Im Seitenschiff der Kirche stehen Plastiksäcke voller Knochen, die noch beigesetzt werden müssen. "Niemand soll jemals sagen können, den Genozid habe es nicht gegeben", hofft André Kamana, der Touristen durch die Gedenkstätte führt.

Der Mann, der den Völkermord an der ethnischen Bevölkerungsminderheit der Tutsi minutiös vorbereitet haben soll, sitzt seit elf Jahren in einer Zelle im tansanischen Arusha, wo er sich dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ruanda stellt. Heute geht sein Prozess zu Ende: Nach 408 Verhandlungstagen verkündet der erste Senat das Urteil gegen Théoneste Bagosora, genannt Colonel Tod. Das Urteil gilt als das bedeutendste seit der Einrichtung des Tribunals.

Die Anklage gegen den 1941 geborenen Militär, der im Genozid als Kabinettsdirektor das Verteidigungsministerium leitete, lautet unter anderem auf Verschwörung, Aufhetzung und Anstiftung zum Völkermord sowie diverse Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Bagosora nahm an der Planung, Vorbereitung und Ausführung einer Strategie (für den Völkermord) teil", heißt es in der Klageschrift. "Die Verbrechen wurden von ihm persönlich, mit seiner Hilfe oder von seinen Untergebenen mit seinem Wissen und Einverständnis ausgeführt." Auch Morde und Vergewaltigungen warfen ihm Zeugen der Anklage im Laufe des Prozesses vor. Bagosora gab offenkundig nicht nur die Befehle, sondern war bei den blutigen Massakern gerne selbst dabei. Er selbst will davon nichts wissen: Bis heute weist Bagosora alle zwölf Anklagepunkte zurück. "Ich glaube nicht an die Theorie, dass es einen Genozid gegeben hat", ließ er das verblüffte Tribunal wissen.

Dabei war Bagosora zweifellos einer seiner Organisatoren. Nach dem gewaltsamen Tod von Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana - sein Flugzeug wurde beim Landeanflug auf Ruandas Hauptstadt Kigali abgeschossen - riss Bagosora sofort die Macht an sich; Stunden später begannen die ersten Massaker. "Bagosora übernahm die Kontrolle über Ruanda", sagte der kanadische General Roméo Dallaire im Prozess aus. An sein Treffen mit Bagosora an besagtem Abend erinnert er sich genau: "Bagosora erklärte mir, das Militär werde jetzt die Regierung übernehmen, und ich erinnerte ihn daran, dass Ruanda immer noch eine Premierministerin habe, die jetzt an der Spitze des Staates stehe."

Bagosora habe sich aufgeregt, niemals werde er das akzeptieren. Wenige Stunden später waren Premierministerin Agathe Uwilingiyimana und ihre Schutztruppe, zehn belgische UN-Blauhelme, tot. Bagosora trifft da bereits alle Entscheidungen: Er verhängt eine Ausgangssperre und ruft das Komitee zusammen, das eine ihm genehme Übergangsregierung wählt. Bei einer Party erklärt er Zeugen zufolge in bester Laune: "Wir müssen alle Tutsi umbringen, um jeden Preis. Eine solche Chance kriegen wir nie wieder." Moderate Offiziere, die das nicht mittragen wollen, entlässt er oder stellt sie kalt. Vor allem aber setzt er den Völkermord ins Werk.

Listen habe Bagosora verteilt, berichtet ein Zeuge, der im Prozess von Den Haag aus über Video gegen Bagosora aussagt. "Ab dem 9. April gab es eine Liste von ihm, auf der prominente Tutsi standen, die als erste umgebracht werden sollten." Wer darauf stand, sei meist einen Tag später tot gewesen. Bagosora ist kein Opportunist, er ist Überzeugungstäter. Seine erste Liste von "Staatsfeinden" stellte er bereits drei Jahre vor dem Genozid auf, als Präsident Habyarimana ihm den Auftrag gibt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was müssen wir tun, um den Feind militärisch, propagandistisch und politisch zu besiegen? Habyarimanas Hutu-dominierte Einparteienregierung spürte den Druck der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), einer mehrheitlich aus Tutsi bestehenden Rebellenbewegung, die von Uganda aus operierte.

Bagosoras Bericht liest sich bereits wie die Hetzreden, die er während des Genozids im Radio verbreiten lässt. "Der Feind, das sind die Tutsi, regierungskritische Hutu und Ausländer, die mit Tutsi verheiratet sind." Bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen spricht Bagosora noch unverblümter: "Wir brauchen einen Krieg, der das Land in ein apokalyptisches Chaos stürzt, damit wir alle Tutsi eliminieren können, dann erst haben wir Frieden." Als Habyarimana 1993 einen Friedensvertrag mit der RPF unterschreibt, verlässt Bagosora unter Protest den Saal. Mehrere wollen gehört haben, wie er sich mit dem Satz verabschiedete: "Ich kehre nach Ruanda zurück, um die Apokalypse vorzubereiten."

Mit Unterstützung eines faschistoiden Zirkels von Hutu-Extremisten, der von der Frau des Präsidenten geführt wird, schafft Bagosora die militärische Basis für den Völkermord. Sein 1993 geschriebenes Programm für "Zivile Selbstverteidigungsgruppen", das er zunächst nicht umsetzen darf, ist ein Leitfaden für die mit Macheten und kruden Waffen ausgerüsteten Mordtrupps, die ein Jahr später binnen Wochen in ganz Ruanda aufgestellt werden.

Bagosora selbst soll entschieden haben, dass Gewehre für die Massenmorde zu teuer seien, auf sein Geheiß wurden hunderttausende Macheten importiert. Verantwortlich für die Aufstellung der Trupps blieb bis zuletzt Bagosora. "Das Modell der Zivilen Verteidigungsgruppen, für welches aufgerüstete Zivilisten zur Eliminierung aller Tutsi aufgehetzt wurden, machte aus einem potenziellen Bürgerkrieg einen Genozid", konstatiert die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch. Im Prozess wurden Filme gezeigt, die Bagosora zeigen, während er den Milizen Befehle gibt.

Doch trotz der erdrückenden Beweislast gibt sich Bagosora als Opfer einer politischen Verschwörung. "Ich erkläre feierlich, dass ich niemals einen Menschen getötet oder die Ermordung von irgendjemandem angeordnet habe", erklärte er in seinem Schlussplädoyer. Seine Verteidiger haben geschuftet, um diesen Eindruck zu untermauern. 160 Zeugen haben sie aufgeboten, fast doppelt so viele wie die Anklage. Am Gesamteindruck änderte das wenig. Der Architekt der ruandischen "Endlösung" steht vor ernsthaften Richtern.

(Copyright Berliner Zeitung, 18.12.08)

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Schiffe, Ladung und Routen sind bestens bekannt


Das Auffahren immer neuer Kriegsschiffe vor dem Horn von Afrika hat Somalias Piraten bisher keinen Dämpfer versetzt. Zwar wurde in der vergangenen Woche kein neues Schiff entführt - eine versuchte Kaperung vor Tansanias Küste schlug fehl -, doch die 25-köpfige Besatzung des saudischen Supertankers "Sirius Star" etwa wartet auch fast einen Monat nach der Verschleppung darauf, dass der staatliche Reeder und ihre Entführer sich auf ein Millionenlösegeld einigen.

Seeleute wissen um die Macht der Seeräuber: Aus Angst vor einem Angriff ließ der Kapitän des deutschen Kreuzfahrtschiffes "MS Columbus" die fast 250 Touristen an Bord am Mittwoch nach Dubai ausfliegen, während er das Schiff mit Kleinstbesatzung durch die gefährlichen Gewässer geleiten will. Eine beantragte Militäreskorte war vorher abgelehnt worden. Somalias Piraten, glaubt Andrew Mwangura von Kenias Seafarer Association, handeln nach wie vor aus einer Position der Stärke heraus.

"Die Piraten sind mit modernster Technik ausgerüstet und können aus 200 Kilometern Entfernung die Registriernummer eines Schiffs erkennen", weiß Mwangura. Dazu komme, dass die Hintermänner der Piraten international vernetzt seien und genau über Schiffe, Ladungen und Routen Bescheid wüssten. Auch die EU-Mission in den Gewässern rund um Somalia, an der nach Willen des Bundeskabinetts nun auch die Deutsche Marine teilnehmen soll, werde an der Überlegenheit der Piraten nichts ändern. "Kriegsschiffe sind allenfalls eine kurzfristige Lösung."

Mit solchen Einschätzungen steht Mwangura, der das Treiben der Piraten in der Region seit Jahren aufmerksam verfolgt, beileibe nicht allein da. Doch an immer kämpferischen Tönen aus aller Welt ändert das nichts. "Niemand sollte überrascht sein, wenn die chinesische Marine Schiffe schickt, um die Piraten auszuradieren", kündigte zuletzt der chinesische General Jin Yinan an.

Auch Somalias Piraten, die das Nachrichtengeschehen aufmerksam verfolgen, drohen inzwischen mit deutlichen Worten. Hieß es zunächst, man werde Besatzungen gut behandeln, meldete sich jetzt ein Pirat von Bord des ukrainischen Frachters "MS Faina" zu Wort, der die brisante Fracht von 30 Panzern an Bord hat. "Einige Crewmitglieder haben sich danebenbenommen", erklärte der Mann, nachdem offenbar mehrere Entführte versucht hatten, die Piraten zu überwältigen. "Sie riskieren ernsthafte Bestrafungen." Den Eignern riet er, sich mit den Verhandlungen über ein Lösegeld zu beeilen: "Die Besatzung ist frustriert, und wir sind es auch." Die Entführung dauert bereits mehr als zweieinhalb Monate. Insgesamt haben die Piraten derzeit gut ein Dutzend Schiffe und 200 Seeleute in ihrer Gewalt.

Während in Europa noch über den anstehenden Marineeinsatz diskutiert wird, wächst innerhalb der Vereinten Nationen der Druck, das Problem von Landseite zu lösen. "Es ist klar, dass die Piraterie eng mit dem Fehlen von Frieden und Stabilität in Somalia zusammenhängt", erklärte der UN-Sonderbeauftragte Ahmedou Ould Abdallah am Mittwoch zur Eröffnung eines zweitägigen Antipirateriegipfels in Nairobi. Am Donnerstag werden dazu 140 Regierungsvertreter aus 40 Ländern erwartet. "Wir hoffen, dass die hochrangige Besetzung zu mehr internationaler Zusammenarbeit führen wird", so Ould Abdallah. Deutlich sagen will es niemand, doch hinter den Kulissen wird bereits die Entsendung einer UN-Eingreiftruppe diskutiert. Seit Jahren hat der Sicherheitsrat entsprechende Anliegen vertagt, jetzt scheint die Zeit reif - zumal die somalische Regierung ihr Einverständnis signalisiert hat. Insider im UN-Hauptquartier in New York berichten, dass sich dort seit Wochen Somalia-Experten aus aller Welt die Klinke in die Hand geben.

(Copyright die tageszeitung, 11.12.08)

Mittwoch, 10. Dezember 2008

"Tausende Choleratote" in Simbabwe


Wer in den einst reichen Vorstädten von Harare wohnt, der hat zumindest noch den Swimming Pool. "Seit Wochen schöpfen wir unser Trinkwasser aus dem Becken", berichtet Florence Mbala (Name geändert) telefonisch aus der simbabwischen Hauptstadt. "Aus den Wasserhähnen kommt schon lange nichts mehr." In den Armenvierteln wie Mbare bedeutet das: Menschen trinken, was sie kriegen können. "Ich habe Männer gesehen, die aus Pfützen am Wegesrand Wasser geschöpft haben", so Mbala. Weil auch die Kläranlagen nicht mehr funktionieren und rohe Abwässer aus den Kanälen in die Straßen laufen, breitet sich die Cholera rasend schnell aus - trotz internationaler Hilfe. Auf mehr als 600 hat sich die offizielle Zahl der Choleraopfer am Dienstag erhöht, nahezu 14.000 Fälle hat die Weltgesundheitsorganisation bisher registriert - soweit die offiziellen Zahlen. Doch Simbabwer wie Itai Rusike glauben indes, dass die Zahl der Toten in die Tausende geht. "Es ist unmöglich zu sagen, wieviele genau sterben", sagt der Direktor der simbabwischen Hilfsorganisation 'Nachbarschaftshilfe für Gesundheit'. Das gelte vor allem auf dem Land. "Krankenhäuser dort sind zu, es gibt keine Ärzte oder Krankenschwestern, selbst die Telefone sind ausgefallen, so dass man nichts erfährt." Das alles, sagt Rusike, seien die Zeichen eines auseinanderbrechenden Staates.

Dafür, dass in Simbabwe auch die letzten Überreste des Staates auseinanderbrechen, ist die Cholera-Epidemie das bislang deutlichste und erschreckendste Symptom. Selbst Simbabwes Gesundheitsminister David Parirenyatwa muss inzwischen einräumen, dass die Regierung hilflos ist. "Unsere Krankenhäuser funktionieren nicht, wir brauchen dringend internationale Hilfe, um die Versorgung wieder in Gang zu bringen." Solche Töne aus dem Kabinett, das Präsident Robert Mugabe in seinem eisernem Griff hat, waren bislang nicht zu hören. Cholera ist nicht das einzige Problem: Ein achtjähriger Junge, der beim Spielen auf dem Schulhof hinfiel, starb nach einer Woche, weil niemand sein geschwollenes Knie behandeln konnte.

Wer helfen will, ist inzwischen schnell überfordert. Ein Pfarrer, der seit Monaten Mais aus dem Ausland nach Simbabwe schmuggelt, um den Ärmsten zu helfen, stöhnt: "Wir haben einen solchen Ansturm auf unsere Kirche erlebt, dass wir jetzt unsere Tore schließen mussten - alles andere wäre zu gefährlich, weil der Geheimdienst uns genau im Blick hat." Denn viele der Hilfesuchenden vor allem in Harare sind Anhänger der Opposition. Das Maismehl will der Pfarrer, der auch Hilfen aus Deutschland erhält, jetzt über befreundete Gemeinden verteilen. Auch das rare Rehydrierungspulver zur Behandlung der Cholera soll so verteilt werden. "Ich komme aus Uzumba im Umland von Harare, aus meinem Dorf alleine sind 300 Menschen vertrieben worden", erzählt Fiona Musaka (Name geändert), eine derjenigen, die vor dem Kirchentor um Hilfe betteln. Auf dem Rücken hat sie das jüngste ihrer vier Kinder gebunden. "Mindestens fünfzehn Bewohner wurden umgebracht, andere wurden so misshandelt, dass die jetzt behindert sind." Gerne würde sie zurück auf ihren Hof, doch ihr eigenes Haus wurde niedergebrannt, weil sie im Wahlkampf Werbung für die Opposition von Morgan Tsvangirai machte. "Ich habe kein Zuhause mehr."

Auch Givemore Nyakudyas Kind, eine Tochter, ist tot: vor drei Wochen starb sie an Cholera. "Diejenigen, die nicht an Cholera sterben, werden verhungern", prognostiziert er düster. In den Läden gibt es kaum noch etwas zu kaufen, und wenn, dann ist es für die meisten unerschwinglich. 35 Millionen Simbabwe-Dollar kostet derzeit ein Brot; morgen werden es vermutlich 70 Millionen sein, so schnell steigen die Preise. Der ohnehin wertlose Simbabwe-Dollar erreicht derzeit neue Tiefen, seit die Regierung am Freitag neue Millionengeschenke an Militär und Polizei ausgezahlt hat. Doch selbst solch kaum verbrämte Bestechung reicht offenbar nicht mehr aus, um Mugabes letzte Unterstützer bei der Stange zu halten. Zwar wurden Polizei und Militär am Dienstag angewiesen, jeden Protest schon im Keim niederzuschlagen. Doch mit Waffen ausgerüstet wurden die Einheiten nicht. "Die Armeeführung weiß nicht mehr, auf wen sie sich verlassen kann", sagt ein Insider. Spätestens seit Soldaten vor einer Woche Unruhen in Harare anführten, weil sie vor einer Bank stundenlang erfolglos auf Geld gewartet hatten, gilt der Sicherheitsapparat als Risiko für die Regierung. Ein gutes Viertel der Streitkräfte, so schätzen Bewohner in Harare, ist kurz davor, zu desertieren.

(Copyright Aargauer Zeitung, 10.12.08)

Samstag, 6. Dezember 2008

Schon wirkt das süße Gift


Auf dem Markt von Ashaiman erreichen die Händler ihre Höchstform: Bevor die schwüle Mittagshitze in der Arbeitervorstadt am Rand von Ghanas Hauptstadt Accra jeden Schritt zur Qual macht, werfen sie sich förmlich auf die in buntes Tuch gewickelten Hausfrauen und die Männer in Anzügen, die sich durch die engen Gänge drängen. Füllige Verkäuferinnen wedeln mit mächtigen Yamswurzeln und rasseln mit Bottichen voll Reis, aber nur wenige Kunden greifen zu. "Ich verdiene 55 Cedi im Monat", rechnet der Lehrer Felix Akwafo vor. Das entspricht etwa 45 Euro. "Zwanzig gehen für die Miete drauf, bleibt etwa ein Cedi, den ich pro Tag für alles andere ausgeben kann." Knapp ein Euro. Die Preise für die Grundnahrungsmittel Yams, Reis oder Bohnen steigen seit Monaten. "Ich versuche, mit Nachhilfestunden zuzuverdienen, aber auch die Eltern sind knapp bei Kasse."

Am Sonntag geht Akwafo wählen, das Parlament und einen Nachfolger für Präsident John Kufuor, der nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf. Einen westafrikanischen Musterstaat nach westlichem Gusto hat Kufuor aus der ehemaligen Militärdiktatur gemacht. In Europa und den USA wird er dafür gerühmt. In Ghana sehen ihn viele vor allem als den Präsidenten, unter dem das Leben immer teurer geworden ist. Seine potenziellen Nachfolger verkünden deshalb seit Monaten, was sie besser machen wollen für die Menschen in Orten wie Ashaiman. Freie Schulbildung, sozialer Wohnungsbau, kostenlose Gesundheitsversorgung sind nur einige der Versprechen für die verarmte Mehrheit. Zwar entstand unter Kufuor eine solide Mittelschicht, die sich Auto, Haus und Urlaub leisten kann, doch fühlt sich die Masse der Geringverdiener, solche wie Felix Akwafo, abgehängt.

"Ashaiman verändert sich", findet auch Josephine Dzimedi. Sie leitet die Schule, an der Felix Akwafo eine sechste Klasse unterrichtet. "Aus Accra ziehen immer mehr Leute her, die sich ein Einfamilienhaus bauen." Neuerdings gibt es Straßenlaternen, nach und nach ziehen die zahlungskräftigen neuen Nachbarn ein. "Nur mit der Wasserversorgung haben wir noch ein Problem, aber das wir wohl auch bald gelöst", sagt die Schulleiterin. Einerseits freut sie sich über die Aufwertung der Vorstadt, die kurz nach der Unabhängigkeit Ghanas 1957 als Auffanglager für diejenigen begann, die beim Bau des Hafens Tema verdrängt wurden. Sie errichteten Häuser, erst aus Holz, dann aus Stein. Heute zählt Ashaiman Hunderttausende von Menschen, der ehemalige Slum ist eine der größten Siedlungen des Landes. Doch für die Armen, klagt Dzimedi, tut der Staat nichts.

"Es gibt eine einzige staatliche Schule, in jeder Klasse sitzen 70, 80 Kinder. Da lernen sie nichts." Deshalb kaufte Dzimedi selbst ein Stück Land und gründete in besseren Holzschuppen ihre eigene Schule. Mit Mikrokrediten der Hilfsorganisation Opportunity International hat sie die Schule Stück für Stück erweitert, mehr als 300 Schüler werden heute unterrichtet. Die Hälfte der Klassenräume hat bereits steinerne Mauern; den Kredit von umgerechnet 20 000 Euro zahlt Dzimedi in Monatsraten pünktlich ab. "Politiker kamen und gingen, ich habe keine Veränderung erlebt", sagt sie. "Ich kämpfe immer noch selbst für meine Schule, wie immer." Doch nicht alle sind so geduldig wie die massige, selbstbewusste Frau.

Auf dem Marktplatz von Ashaiman stehen vor allem Jugendliche in Grüppchen zusammen. Erregt diskutieren sie. "Die Stimmung vor den Wahlen ist angespannt", hat Dzimedi beobachtet. Gerüchte machen die Runde, über Seilschaften, über die Günstlinge des neuen Reichtums. Denn ab 2010, so heißt es, wird in Ghana Öl fließen: Direkt vor der Küste wurde 2007 eines der reichsten Vorkommen Afrikas entdeckt.

"Der Streit darum, wer vom Öl profitiert, vergiftet schon jetzt die politische Atmosphäre", urteilt Kwesi Aning, der 30 Autominuten von Ashaiman entfernt die Forschungsabteilung am Internationalen Trainingszentrum für Friedenstruppen leitet. "Die Erwartungen sind immens und kaum einzulösen." Das gilt vor allem für die meist arbeitslosen Jugendlichen, von denen viele weder Schulabschluss noch Ausbildung haben. "Das sind ungelernte Hilfskräfte, die im Ölgeschäft keine Jobs kriegen", so Aning.

Doch in Erwartung des Ölreichtums steigen die Preise für Land, Mieten und Lebenshaltung in und um Accra. Die Wut der jungen Leute wurde durch Politiker angestachelt, die auf ihren Kundgebungen Geldscheine austeilten, um die Jugend auf ihre Seite zu ziehen. Die Folge: So gewalttätig wie dieser Wahlkampf war noch keiner.Vor allem im besonders armen Norden kam es zu Ausschreitungen. Bei Schusswechseln zwischen Anhängern von Opposition und Regierung gab es mehrere Tote.

"Alles wird größer, protziger, besser, davon will ich auch was abhaben", ärgert sich auch Baba, ein Mann mit Schnurrbärtchen, Anfang 20, der neben einer der vielen Baustellen im Zentrum Accras Bleistifte verkauft. In Erwartung des Öls erlebt Accra einen beispiellosen Aufschwung. Hotels, Bürohochhäuser und Einkaufszentren entstehen. Indische und chinesische Bautrupps haben gerade den neuen Präsidentenpalast fertiggestellt: die monströse Version eines asiatischen Tempels mit Anleihen aus Ghanas Folklore für 50 Millionen Dollar. Der Staat ist pleite, soeben hat Ghana 750 Millionen Dollar Staatsanleihen aufgenommen. Auch internationale Kreditgeber rechnen damit, dass Petrodollars alle Schulden begleichen werden.

Doch Öl ist nicht die einzige Finanzquelle für Ghanas neue Kulisse. Viele der Baustellen, da ist Kwesi Aning sicher, sind vor allem Waschmaschinen für Schwarzgeld aus dem internationalen Drogenhandel. Ghana ist in den vergangenen Jahren zum wichtigen Drehkreuz aufgestiegen. "Drogengeld durchdringt längst alle staatlichen Institutionen und gefährdet den Zusammenhang unserer Gesellschaft", sagt Aning. "Zoll, Polizei, Justiz und Politik: Alle sind in das Geschäft mit Kokain und Heroin für Europa verstrickt."

Ganze Dörfer machen mit: In dem Fischerort Prampan entdeckten Fahnder vor zwei Jahren 1 900 Kilo Kokain in einem Schuppen. Und als ein Abgeordneter der Regierungspartei, Eric Amoateng, in New York verhaftet wurde, als er Heroin im Wert von sechs Millionen Dollar ins Land schmuggeln wollte, protestierte sein Wahlkreis fast geschlossen gegen die Festnahme. Viele, so glaubt Aning, waren in Amoatengs Geschäfte verstrickt. Selbst der Wahlkampf, der teuerste, den Ghana je sah, sei durch Drogengelder mitfinanziert. "Es wärenaiv zu glauben, es sei anders."

Kolumbianische Kartelle haben Westafrika mit seinen schwachen Staatsstrukturen als Durchgangsstrecke auf dem Weg nach Europa entdeckt. Sie heuern Ghanaer an, um auf See oder an der Küste beim Transport der großen Mengen Kokain zu helfen. Bezahlt werden die Helfer in Naturalien. Diese Drogen werden dann in einem zweiten, "kleinen" Kreislauf nach Norden geschickt: "Dazu braucht man viele Helfer, denn Kokain wird meist mit Boten geschmuggelt, die die Drogen verschlucken oder anders verstecken", sagt ein Zöllner, der auf Accras Flughafen Kotoka arbeitet. Seinen Namen darf er nicht nennen. Einige seiner direkten Vorgesetzten, da ist er sicher, seien in das Geschäft mit den Drogen verwickelt. "Wer quatscht, muss dran glauben." Auch der Binnenmarkt wächst, willige Dealer gibt es an Plätzen wie Ashaiman genug. "Gelingt es der neuen Regierung nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren, den Drogensumpf trockenzulegen", prophezeit Aning, "werden die Drogenbosse das Land ganz kontrollieren."

(Copyright Berliner Zeitung, 6.12.08)

Montag, 1. Dezember 2008

Blutige Politik


Die Leichen liegen achtlos aufeinandergeworfen im Hof der Zentralmoschee von Jos. Viele von ihnen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder verstümmelt. Mindestens vierhundert Tote seien es, berichten Augenzeugen. Wie viele Opfer die Massaker in der Hauptstadt der nigerianischen Plateau-Provinz am Wochenende wirklich gefordert haben, ist bisher nicht bekannt. Ein Sprecher der örtlichen Polizei sagt am Sonntag nur, es seien "sehr viele".

Die Unruhen in Jos sind die schlimmsten, die die Bewohner der Provinz im Zentrum des Landes seit Jahren erlebt haben. Polizisten patrouillieren mittlerweile mit der Armee durch die Armenviertel der Stadt, um eine von Gouverneur Jonah Jang verkündete Ausgangssperre durchzusetzen. Ihr Befehl lautet, jeden potenziellen Unruhestifter umgehend zu erschießen.

Begonnen hatten die Massaker am Donnerstagabend. Nach den Kommunalwahlen wurden die Stimmen zwar noch ausgezählt, doch unter Anhängern der oppositionellen All Nigeria Peoples Party (ANPP) kursierte bereits das Gerücht, dass der wichtige Wahlkreis im Norden von Jos verloren sei - an die landesweit regierende People's Democratic Party (PDP). Während die ANPP vor allem als Partei der aus dem muslimischen Norden zugewanderten Bevölkerung gilt, die zu den ethnischen Gruppen der Hausa und Fulani gehört, ist die PDP traditionell die Partei der aus dem christlichen Süden stammenden Yoruba. In Jos mischen sich wie überall in Nigerias Zentralregion die Ethnien und Religionen.

Vorurteile zwischen den Bevölkerungsgruppen werden von Politikern in dieser Region immer wieder instrumentalisiert. Die so geschürten politischen Konflikte mündeten in Jos bereits in der Vergangenheit in blutige Straßenschlachten und Massaker zwischen Christen und Muslimen, zwischen Hausa und Yoruba. Bei Kämpfen zwischen christlichen und islamischen Milizen waren vor sieben Jahren mehr als tausend Bewohner von Jos ums Leben gekommen. Drei Jahre später wurde in Plateau der Ausnahmezustand verhängt, nachdem christliche Milizen zweihundert Muslime in der Stadt Yelwa brutal ermordet hatten.

Diesem Muster folgten auch die jüngsten Massaker. Als erstes steckte der wütende Mob in der Nacht zum Freitag mehrere Kirchen und Moscheen in Brand. Dann brach Chaos aus: Menschen wurden mit Macheten zerstückelt, zu Tode geprügelt oder an eilends errichteten Straßensperren angezündet. Tausende Häuser und Geschäfte gingen in Flammen auf, hunderte geparkte Autos wurden zertrümmert.

Mindestens zehntausend Bewohner flohen, vor allem die ärmsten: Christen aus vorwiegend von Muslimen bewohnten Slums brachten sich in Sicherheit in mehrheitlich christlichen Slums; Muslime flohen entsprechend in die andere Richtung. Andere verbarrikadierten sich in Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden.

Inmitten der Kämpfe verkündete der Vorsitzende der Wahlkommission, Gabriel Zi, die PDP habe nicht nur den Wahlkreis im Norden von Jos, sondern auch alle anderen sechzehn Wahlkreise gewonnen. "Die Wahlen waren fair, gerecht und transparent", sagte Zi. Dieser Auftritt fachte die Kämpfe, an denen längst militante christliche und muslimische Milizengruppen beteiligt waren, weiter an.

An einen Zufall glaubt kaum jemand in Jos. "Das war eine minutiös vorbereitete Attacke", urteilt etwa der Pfarrer Yakubu Pam. "Einige wenige gierige und unzufriedene Leute haben den Frieden der vergangenen Jahre aufgegeben und die Wahlen zu einem Kampf auf Leben und Tod erklärt." Wer aus seiner Sicht die Rädelsführer sind, lässt Pam gerne durchblicken: "Unsere muslimischen Brüder und Schwestern hatten ihre Autos längst weggeparkt, als die Unruhen begannen."

Der Präsident des obersten Rates für islamische Angelegenheiten, Sultan Sa'ad Abubakar, weist die Vorwürfe zurück und ruft seinerseits die Christen zur Ruhe auf: "Eine Politik des Hasses und der Ungerechtigkeit darf keinen Keil zwischen die Bevölkerung Nigerias treiben." Auch der Generalsekretär der Vereinigung nigerianischer Christen, Samuel Salifu, macht die Politik verantwortlich: "Wir sind es leid, immer die gleichen Krisen zu sehen, wenn einige Politiker in ihrem Eigeninteresse die religiöse Karte spielen." Damit spricht er aus, was viele Nigerianer denken: Christliche und muslimische Milizen werden von Politikern je nach Interessenlage eingekauft.

Die derart Gescholtenen lassen am Wochenende keine Reue erkennen, im Gegenteil. Die Vorsitzenden der unterlegenen Oppositionsparteien fordern eine Annullierung der Wahl und werfen der Regierung vor, die Massaker in Jos selbst organisiert zu haben. "Die Strategie ist doch glasklar", wettert der Parteisprecher des oppositionellen Action Congress, Alhadschi Lai Mohammed: "Die fälschen die Wahl und sorgen dann für Chaos, damit die Ergebnisse nicht hinterfragt werden können."

Die Regierung von Plateau bestätigt mittlerweile, mindestens fünfhundert Gewalttäter seien festgenommen worden. Zeitungen sprechen von mindestens dreimal so vielen. Viele hätten Militär- oder Polizeiuniformen getragen, sagt der Justizminister von Plateau, Edward Pwajok. Bewohner von Jos berichten, Polizisten hätten willkürlich das Feuer auf unschuldige Bewohner in mehreren Slums eröffnet. Auch einige hundert schwer bewaffnete Kämpfer sollen festgenommen worden sein. Sie hatten offenbar versucht, von außerhalb in die Stadt zu gelangen.

(Copyright Berliner Zeitung, 1.12.08)