Mittwoch, 28. November 2007

Wenn die Wüste Bücher verschlingt


Wenn die Sonne in einem diffusen Schimmer den Horizont grau färbt, ist das Leben in Chinguetti bereits voll im Gang. In weiße Kaftane gehüllte Männer treiben ihre Kamelherden hinaus in die Dünen, die die Karawanenstadt inmitten der Sahara umgeben. Hier, im Nordosten des Wüstenstaats Mauretanien, hat sich in den mehr als 700 Jahren seit der Gründung Chinguettis vieles kaum verändert. Natürlich gibt es inzwischen Mobiltelefone, mit denen die Kameltreiber sich irgendwo da draußen in der Wüste verabreden können. Manche haben Autos, mit denen sie durch den meist trocken liegenden Wadi preschen. Doch wer irgendwo anklopft und um Auskunft bittet, wird zunächst zu einem Glas süßen Tee mit einem Hauch Minze eingeladen. Der Tee muss mehrmals hin und her geschüttet werden, damit er ausreichend schäumt. Drei Gläser muss der Gast trinken, erst ein viertes darf er ausschlagen.

Mit solchen Traditionen soll das Überleben derjenigen gesichert werden, die den weiten Weg durch die Wüste hinter sich gebracht haben. Wer es nach Chinguetti geschafft hat, ist zweifellos weit gereist. Wie die Karawanen, die im 12. Jahrhundert aus Arabien kamen, um Gold, Elfenbein und andere afrikanische Kostbarkeiten einzukaufen. Mit ihnen kam der Islam. Chinguetti gilt als "das siebte Mekka" und ist seit jeher für seine Schriftgelehrten berühmt, die schon vor hunderten von Jahren Traktate zur Auslegung des Korans verfassten, ebenso wie wissenschaftliche Schriften. Bis heute sind Religion und Handel die Taktgeber im Leben Chinguettis.

Auf der Marktstraße im Schatten der neuen Moschee haben sich wie jeden Morgen fliegende Händlerinnen und Händler vor den wenigen Läden versammelt. Während sie ein paar Tomaten, gelbleuchtende frische Datteln oder in kostbares Wasser getauchte Minze feilbieten, erzählen sie von den Veränderungen. "Es ist heißer geworden, immer heißer", sagt Fatimah, deren Gesicht schwarz verschleiert ist. "Viele meiner Verwandten waren Nomaden und sind jetzt sesshaft geworden, weil es selbst das wenige, was wir früher in der Wüste hatten, nicht mehr gibt." Unvorhersagbar sei die Sahara geworden, pflichtet Fatimas Nachbarin bei: Wo es früher stets Wasserlöcher gegeben hätte, seien sie heute im Sand verschwunden. "Das wenige Ackerland ist von Dünen förmlich überspült worden."

Klimaforscher führen den noch schnelleren Vormarsch der Dünen, die Desertifikation, direkt auf gestiegene Temperaturen zurück. Diese begünstigen stärkere Winde, die den Sand vor sich hertreiben und seine zerstörerische Kraft verstärken. Eine halbe Stunde Fahrt in die Sahara bringt uns zu einem kleinen Dorf mit quadratischen Hütten aus Lehm. Haus und Palmenhain, gespeist aus einem nahen Brunnen, sind von Zäunen aus Palmblättern und Holz umgeben, die den Sand aufhalten sollen. "Das ist eine traditionelle Technik, denn Wüstenvormarsch hat es schon immer gegeben", erklärt Lemine, der aus dieser Gegend stammt. "Aber die Wucht des Sandes ist so stark geworden, dass die Zäune nicht mehr halten. Dieses Dorf wird langsam vom Sand eingeschlossen. Man kann nichts dagegen tun."

In Chinguetti selbst ist es ähnlich. Während das Leben in der höher gelegenen Neustadt mit ihrer Marktstraße blüht, ist in der Altstadt jenseits des Wadis kaum eine Menschenseele unterwegs. Einer der wenigen, der hier noch die Stellung hält, ist Saif Islam, 59. Er ist der Spross einer Familie, die seit Jahrhunderten die einzigartigen Bücher und Schriften der Glaubensgelehrten in einer Privatbibliothek aufbewahrt. Mehrere solche Bibliotheken in ihren historischen Gebäuden sind der Grund dafür, dass die Unesco Chinguetti zum Weltkulturerbe ernannt hat. "Das Haus ist fast so alt wie die Schriften", erklärt Islam, der mit einem Schlüssel von der Größe eines Handfegers das rappelnde Schloss öffnet und den schweren Holzriegel zurückschiebt. Er öffnet ein zweites Portal, das vom Innenhof abgeht, bückt sich durch die Tür, die kaum höher als einen Meter ist, und steht in seiner Bibliothek. "Dies ist eines der größten Bücher, die ich habe, es stammt aus dem 17. Jahrhundert: der Hadith, die Worte des Propheten", sagt Islam und zieht ein gebundenes Buch aus einem einfachen Pappschuber, mit dem er die unersetzlichen Werke gegen Staub und Termiten schützt.

Islam kennt seine Bücher, die sich seit 1698 im Besitz seiner Familie befinden. Blind greift er in die Regale und fördert Kostbarkeiten zu Tage. "Dies ist der einzige Koran in Chinguetti, der auf Gazellenhaut geschrieben ist, und hier eine Grammatik aus dem 15. Jahrhundert - der Text in Rot, die Anmerkungen in Schwarz." Der mehrfache Großvater und seine Familie leben davon, dass diese Bücherei existiert. "Dies ist eine Privatsammlung, keine öffentliche Bücherei", sagt er. Die Regierung im fernen Nouakchott hat einmal versucht, die Besitzer zu enteignen und die Schriften in eine öffentliche Bücherei zu legen. In dem leeren Gebäude verstauben heute die Regale. Heute bangt Islam aus anderen Gründen um seine Bibliothek. Er kennt den vor zwei Jahren veröffentlichten Bericht des Unesco-Komitees für das Welterbe: "Antike Stätten sind für ein bestimmtes Mikroklima gebaut worden und werden durch den Klimawandel in ihrem Bestand bedroht." Gebäude bröckeln weg, weil Hitze oder starke Regenfälle den Boden auflösen, auf dem sie stehen. In Timbuktu im Norden Malis, wie Chinguetti eine Saharastadt, seien antike Gebäude von den vormarschierenden Dünen regelrecht erdrückt worden.

Dass sich das Klima geändert hat, bestätigt Saif Islam. Er bemerkt, wie Papiere brüchiger werden, weil die Temperaturen seit Beginn der 90er-Jahre stetig steigen. Weil es generell heißer und trockener geworden ist als in der Wüste ohnehin schon, rücken zudem die Dünen viel stärker vor. "Diese Stadt ist akut bedroht", konstatiert Saif Islam. "Wenn die Wüste noch weiter in die Stadt vormarschiert, wird die Bibliothek verschüttet und muss in die Neustadt evakuiert werden."

Schon jetzt ist von Chinguettis Altstadt kaum mehr übrig als Ruinen, die mit Sand vollgelaufen sind. Auch um Saif Islams Bibliothek liegt ein Ring aus Sand. Neuerdings tragen auch seltene, aber heftige Regenfälle in Chinguetti zur Zerstörung der Fundamente bei. "Die Leute freuen sich über den Regen, jeder Niederschlag ist hier ein Grund zum Feiern", räumt Saif Islam ein. Doch im Wechselspiel der Extreme droht Chinguettis einzigartiges kulturelles Erbe unterzugehen - und damit ein ganzer Wirtschaftszweig. Gerade in Entwicklungsländern wie Mauretanien, so warnt die Unesco, gehe durch den Klimawandel nicht nur Bewusstsein für die Geschichte verloren. "Es geht um Existenzen: Die Leute leben von Touristen, die die Kulturdenkmäler sehen wollen. Bleiben sie weg, breitet sich Armut aus."

Saif Islam schließt sein schweres Portal wieder ab. "Vielleicht lässt die Verwüstung ja doch wieder nach, inschallah", seufzt er. Moderne Schutzwälle oder irgendwelche technischen Wunderwerke kann sich hier in der Sahara niemand leisten. Hoffnung hingegen kostet nichts, auch wenn sie vergebens scheint. Ein paar Straßen von Saif Islams Bücherei entfernt hat jemand eine dreieinhalb Meter hohe Messlatte aufgestellt. "Hier wurden im Juli 2003 3,5 Meter Dünensand abgetragen", heißt es daneben. Gut die Hälfte der Latte ist schon wieder vom Sand eingeschlossen.

(Copyright Berliner Zeitung, 28.11.07)

Freitag, 9. November 2007

Zum Shoppen nach Afrika


Mit beiden Ärmchen klammert sich Lea an Anna Jessen fest. Seit zwei Monaten verbringen die einjährige Kenianerin und die 21-jährige Frau aus Oldenburg fast jede Minute miteinander. Lea schläft in Annas Zimmer, Anna wickelt und füttert Lea. Sie spielt mit ihr und den anderen Kindern im "Nest", dem Kinderheim in Limuru, nahe der kenianischen Hauptstadt Nairobi.
"Lea ist so fröhlich, sie babbelt die ganze Zeit. Das ist irgendwie surreal." Anna war auch dabei, als Lea operiert wurde, weil ihr Vater sie im Alter von drei Monaten vergewaltigt hat. Leas Fall stand in den Zeitungen. Schlagzeilen machte er nicht, dafür passieren solche Dinge zu oft. "Kinder, denen etwas Schlimmes passiert ist, sind meistens viel stiller als Lea - was ein Problem ist, weil du sie in der Masse leicht übersiehst", sagt Anna. Noch zwei Monate ist sie im "Nest", dann geht es zurück nach Deutschland. Sie will Kinderärztin werden.

Irene Baumgärtner hat auch einmal in Deutschland gelebt, in Franken, aber das ist lange her. Jetzt geht sie lachend durch den Garten des "Nest", dessen Leiterin sie ist. Viele der achtzig Kinder des Heimes spielen auf Decken. Es ist kalt hier im Hochland, wo der Tee wächst. Die Lohntüten müssen vorbereitet werden; ein Nachbar bringt ein Kalb, das bis Weihnachten gemästet werden soll. Und immer wieder klingelt das Telefon. "Viele der Anrufer sind Paare, die sich hier einmal umgucken wollen", sagt Baumgärtner. Sie meint damit: Potenzielle Adoptiveltern. Dabei sind die wenigsten Kinder im "Nest" Waisen.
Wie Lea sind die meisten deshalb im Heim untergebracht, weil ihre Mütter im Gefängnis sitzen. "Aber manchmal kann ich mich dem Kinderamt nicht widersetzen, dann bekommen wir auch Waisen zugewiesen." Gerade jetzt ist wieder Hochkonjunktur. "Um Weihnachten herum wird gefeiert, viele sind betrunken, und da werden eine Menge ungewollter Kinder gemacht, die im September und Oktober ausgesetzt werden."

Zehn Kinder hat Baumgärtner in den vergangenen Wochen aufgenommen, fünf davon wurden von den Müttern in Latrinen geworfen. Einige Neugeborene liegen unter dicken Wolldecken in einer Außenstelle, weil das Heim hoffnungslos überfüllt ist. So kommt es, dass derzeit doch 25 Adoptionen laufen im "Nest", die meisten an Ausländer, die in Kenia leben.
Karsten* ist einer von ihnen. Mit seiner Frau Petra lebt er seit drei Jahren in Nairobi, beide arbeiten für eine deutsche Firma. In zwei Jahren endet ihr Vertrag, und bis dahin soll der fünfjährige Kibaya auch offiziell ein Teil ihrer Familie sein. "Wenn alles glattgeht, können wir die nächsten Weihnachten schon zusammen bei den Großeltern feiern."

Bis dahin muss allerdings noch einiges passieren. Seit Monaten prüft die kenianische Adoptionsagentur namens Little Angels bereits, ob Karsten und Petra als Adoptiveltern infrage kommen. "Die ziehen dich wirklich aus: Vermögensverhältnisse, medizinisches Gutachten, Bescheinigungen des Arbeitgebers, Bescheinigung der Bundesanwaltschaft und so weiter." Sozialarbeiter kommen außerdem zu Überraschungsbesuchen vorbei. Zum Schluss gibt es eines von drei Gutachten, das dem zuständigen Gericht zugestellt wird. Die Einschaltung einer Adoptionsagentur ist Pflicht. Als eines von wenigen afrikanischen Ländern hat Kenia internationale Abkommen ratifiziert, die dies vorsehen. Die Kosten dafür tragen die angehenden Adoptiveltern - unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. "Für Ausländer kann das mit Anwaltskosten gut 2.500 Euro kosten", weiß Irene Baumgärtner. "Aber viel schlimmer ist das für Kenianer: Die wenigen, die hier ein Kind adoptieren wollen, können es sich oft nicht leisten, weil sie auch fast 1.000 Euro auf den Tisch legen müssen."

Dabei würde Irene Baumgärtner gerne sehen, dass sich in Kenia Verhältnisse entwickeln, die es ermöglichen, dass ihre Waisen von Kenianern adoptiert werden. Dass die meisten Adoptiveltern Ausländer sind, sieht sie mit Sorge. "Seit fünf, sechs Jahren ist es im Westen schick geworden, ein afrikanisches Kind zu adoptieren", meint sie. Die Bilder von Madonna und Angelina Jolie mit ihren Adoptivkindern aus Afrika in den Illustrierten haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Motivation mancher europäischer oder amerikanischer Paare, die im "Nest" vorbeischauen, beschreibt sie so: "Der Freund hat ein schwarzes Baby, das ist süß, und außerdem steht er seitdem sozial im Mittelpunkt, weil er was Gutes tut - eine solche Adoption bringt eine Menge Sozialprestige, das wollen die dann auch."

Irene Baumgärtner, die selbst vor Jahren zwei Kinder adoptiert hat, warnt vor einer solchen Blauäugigkeit: "Es ist nicht leicht. Unsere Kinder hier haben schon eine Menge erlebt, im Mutterbauch und danach." Die Psychologen, mit denen sie bisher zu tun hatte, bescheinigen immer das Gleiche: frühkindliche Traumata. Darum legt die "Nest"-Chefin darauf Wert, dass die künftigen Adoptiveltern und -kinder sich schon länger kennen und echte emotionale Bindungen entwickeln, noch ehe die Adoption vollzogen wird.

So wie bei Petra, die einmal die Woche im "Nest" vorbeikam, um auszuhelfen. Petra und Kibaya lernten sich kennen, verbrachten ein paar Wochenenden miteinander und schließlich entschied sich das Paar vor einem Jahr, Kibaya als Pflegekind mit nach Hause zu nehmen. "Ich habe vorher nie über eine Adoption nachgedacht", sagt Karsten. Und auch nicht an all die Probleme, die ihn noch erwarten - auch jenseits des offiziellen Prozesses, der in Deutschland ähnlich langwierig ist. Er solle sich davor hüten, dass seine Adoptionsabsichten sich herumsprechen, wurde Karsten von Freunden gewarnt. Denn zu häufig sind die Fälle, in denen plötzlich echte oder vermeintliche Onkels oder Tanten auftauchen und für ihre Zustimmung zur Adoption absahnen wollen. Andernfalls, so lautet die Drohung, könnte das Gericht die Adoption ablehnen. Von solchen Fällen hört jeder, der sich auf eine Adoption in Kenia einlässt.

Am Ende des Prozesses steht eine große Anhörung vor Gericht, bei der die Eltern mehrere Stunden lang ins Kreuzverhör genommen werden. Seit ein paar Monaten finden diese Anhörungen in Nairobi allerdings kaum noch statt. Zwei der drei dafür zuständigen Richter, wurden versetzt. Ersatz gibt es noch nicht.

Trotz all dieser Schwierigkeiten boomt das Geschäft mit den Adoptionen. Anders als Irene Baumgärtner haben sich viele Heimbetreiber auf das Geschäft mit Auslandsadoptionen spezialisiert. Bei einem von Briten geführten Heimbetrieb, gibt es für alle Kinder nur ein Ziel: von einer - möglichst westlichen - Familie adoptiert zu werden. Viele private kenianische Kinderheime machen es genauso. Die drei Adoptionsagenturen, die es im Land gibt, sind mit jeweils einem Kinderheim fest verbandelt.

Auch der illegale Kinderhandel blüht. Wem die Verfahren zu langwierig sind, wer als Adoptivpaar abgelehnt wird oder wer halb gutgläubig, halb Augen verschließend Angebote von kriminellen "Agenturen" akzeptiert, die das Wunschkind in kurzer Zeit ohne viel Papierkram liefern können, befördert das schmutzige Geschäft. Nur mit Drogen- und Waffenschmuggel, so warnt das Kinderhilfswerk Unicef, ist so viel Geld zu machen wie mit Menschenhandel. Und in einem Land wie Kenia ist es nicht schwer, gefälschte Papiere für Kinder zu bekommen. Computer gibt es bei den Meldebehörden nicht, in der Zentrale in Nairobi stapeln sich die handgeschriebenen gelben Zettel aus Krankenhäusern, die als Geburtsnachweis genügen.
So erklären sich so bizarre Fälle wie die des kriminellen Gilbert Deya, der sich selbst zum Bischof seiner eigenen Kirche ernannte und damit prahlte, seine Gebete würden Frauen jenseits der Menopause zu ihren Wunschkindern verhelfen. Als der Fall 2004 bekannt wurde, behauptete alleine Deyas Frau, binnen fünf Jahren 13 Kinder zur Welt gebracht zu haben. "Wunderkinder", denn sie habe niemals Sex gehabt.

Die Kliniken in den unzugänglichen Slums von Nairobi, die alle paar Monate eine neue Geburtsurkunde für die gestohlenen oder verkauften Kinder ausstellten, wurden zwar geschlossen. Doch da waren schon Jahre vergangen und viele, vermutlich hunderte Kinder, mit ihren angeblichen Müttern nach Großbritannien geflogen. Nur bei wenigen der aufgegriffenen Kinder ließen sich die Eltern ausfindig machen. 13 "Wunderkinder" leben bis heute im "Nest".
"Ich habe die Kinder zufällig gesehen, als ich wegen eines anderen Falls vor Gericht war", empört sich Irene Baumgärtner. Ein Mädchen, dass sie einem Polizisten entriss, konnte nur in letzter Minute vor dem Tod gerettet werden. Auch die anderen Kinder, die im staatlichen Waisenhaus Nairobis untergebracht waren, waren unterernährt und krank. Damals ging Baumgärtner zum Kinderamt und drohte dem Leiter: "Entweder kommen all diese Kinder zu mir oder ich schalte die internationale Presse ein." Einen Tag später waren die Kinder im "Nest". Dort müssen sie vorerst bleiben. "Wir hatten schon Anfragen, aber wir dürfen die Kinder nicht zu Pflegeeltern geben, solange das Verfahren läuft. Und das kann noch Jahre dauern."

(Copyright die tageszeitung, 9.11.07)

Freitag, 2. November 2007

Schmutzige Geschäfte mit den Kindern und der Hoffnung


Aus dem Waisenhaus der Kleinstadt Abéché im Osten des Tschad dringt fröhlicher Kinderlärm. Kleine Jungen kicken einen Ball über den Hof. Mädchen mit großen braunen Augen sitzen kichernd zusammen, wenden sich aber scheu ab, wenn Fremde mit ihnen reden. Doch die Fremden müssen reden und Fragen stellen, damit die Kinder wieder nach Hause können, zu Eltern und Geschwistern. Es ist eine Suche, die noch lange dauern kann und vielleicht erst dann ein Ende findet, wenn die Öffentlichkeit den „gestohlenen Kindern“ von Abéché keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.

Das Waisenhaus von Abéché ist im Moment ziemlich überfüllt. Hierher sind die 82 Jungen und 21 Mädchen, die am vergangenen Donnerstag um ein Haar in einer Chartermaschine Richtung Europa geflogen wären, gebracht worden. „Wir haben mit den Kindern erste Gespräche führen können“, sagt die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Abéché, Annette Rehrl. Und immer häufiger gibt es da Widersprüche zu den Behauptungen der inhaftierten Mitarbeiter der französischen Organisation „Arche de Zoé“, die Kinder seien Kriegswaisen aus der nahen Krisenregion Darfur. „91 Kinder haben mit mindestens einem Elternteil zusammengelebt“, heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht, den das UNHCR mit dem UN-Kinderhilfswerk Unicef und dem Roten Kreuz erstellt hat. Die Geschichte von zwölf Kindern ist noch ungeklärt – auch deshalb, weil das jüngste gerade einmal ein Jahr alt ist.

Die Mehrheit der Kinder stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Tschad und Darfur, die Nationalität ist schwer festzustellen. „Es wird lange dauern, bis wir die Eltern dieser Kinder gefunden haben“, seufzt Rehrl. Andere Behauptungen der sechs für „Arche de Zoé“ arbeitenden Franzosen, die wegen Kinderhandels und Betrugs angeklagt sind, haben sich ebenfalls zerschlagen: etwa die, dass die Kinder in Europa medizinisch behandelt werden sollten. Betreuer in Abéché fanden weder Krankheiten noch Verletzungen bei den Kindern. Unter angelegten Verbänden war unversehrte Haut.

Es mehren sich die Anzeichen, dass „Arche de Zoé“ möglicherweise afrikanische Kinder an betuchte Adoptiveltern in Europa verkaufen wollte. Christine Peligat, die Ehefrau eines der Verhafteten, gab in einem Interview offen zu, dass die Kinder in Familien untergebracht werden sollten. Dafür seien unterschiedlich hohe „Spenden“ an die Organisation gezahlt worden. Zugleich räumt sie ein, dass Tschads Regierung nicht involviert war: „Die Verhandlungen zum Ausfliegen der Kinder sind nur mit dem Flughafen in Abéché geführt worden.“ Den Vorwurf des Kinderhandels weist Peligat dennoch von sich.

Doch Kenner der Szene wundern sich nicht, dass im Osten Tschads Kinder womöglich verschoben werden sollten. In der Region führen Rebellen seit Jahren einen Bürgerkrieg mit der Regierung, Milizen aus dem nahen Darfur fallen immer wieder über Dörfer her. Dazu kommen Lager mit Hunderttausenden Flüchtlingen, die aus Darfur und dem Tschad stammen. Die Menschen sind arm und hoffnungslos, der Staat ist schwach, die Lage unübersichtlich – für Kinderhändler ideal. „Kinderhändler nutzen die Hoffnungen derjenigen, die unter schlimmsten Bedingungen leben, schamlos aus und müssen praktisch keine Strafverfolgung befürchten“, bilanziert Unicef-Regionaldirektor Per Engebak.
Es geht um ein Milliardengeschäft: Jährlich, so schätzt das Büro für Drogen und Kriminalität bei den Vereinten Nationen, werden bis zu sieben Milliarden Euro im Menschenhandel umgeschlagen. Nach Drogen- und Waffenhandel steht der Verkauf vor allem von Frauen und Kindern an Platz drei der illegalen Einnahmequellen, die die organisierte Kriminalität längst für sich erschlossen hat. In Afrika ist die Lage besonders schlimm: 49 der 53 afrikanischen Staaten gaben in einer 2003 veröffentlichten Studie offen zu, dass es bei ihnen Menschenhandel gebe. „Die Fälle, bei denen Kinder in den Westen geschleust werden, machen natürlich die meisten Schlagzeilen“, weiß Victor Chinyama von Unicefs Afrikabüro. „Doch das Gros des Kinderhandels findet zwischen afrikanischen Staaten statt oder sogar innerhalb eines Staates.“

Genaue Zahlen sind deshalb schwer zu erheben. 200000 bis 300000 Kinder, so eine Schätzung, sind jedes Jahr allein in West- und Zentralafrika Opfer des schmutzigen Geschäfts. Sie landen als Zwangsarbeiter auf Plantagen, in Haushalten oder auf dem Strich. Der Kinderhandel in Afrika ist zudem die Quelle, aus der sich internationale Menschenhändlerringe bedienen. Vor wenigen Tagen hat die Polizei im westafrikanischen Ghana einen Mädchenhändlerring ausgehoben, der 18 junge Nigerianerinnen als Prostituierte nach Europa schicken wollte. Andere Mädchen aus westafrikanischen Ländern wie Benin, Togo und Burkina Faso waren bereits auf diesem Wege in die Prostitution nach Europa geschickt worden.

Aus Äthiopien verschwinden jährlich mehrere Tausend Mädchen, um im Nahen Osten als Hausmädchen zu arbeiten. „Die Kinder haben oft schon eine Odyssee vom Land in die Stadt hinter sich, wo sie sich Arbeit erhofft haben“, erklärt Chinyama. Weil dieser Wunsch nur für die wenigsten in Erfüllung geht, lassen sie sich auf das nächste Geschäft mit der Hoffnung ein und verlassen ihr Land.

Die Schicksale der Hausmädchen, die oft im Haus eingesperrt sind und deren Pässe weggeworfen werden, damit sie nicht fliehen können, kennt Chinyama genau. „Die Kinder müssen rund um die Uhr arbeiten, sie werden geschlagen und sexuell missbraucht – es handelt sich um moderne Sklaverei.“ In den Westen werden Kinder hingegen oft schon im Babyalter verschleppt, wo sie an gut zahlende Adoptiveltern verkauft werden.

„Ein afrikanisches Kind zu adoptieren ist hip, seit Stars wie Madonna oder Angelina Jolie es hoffähig gemacht haben“, kritisiert Irene Baumgärtner, die in Nairobi ein Kinderheim leitet. Die Mühlen der afrikanischen Bürokratie mahlen langsam, und teuer ist ein offizieller Adoptionsprozess auch. „Der eine oder andere in der Bürokratie ist durchaus bereit, für Geld diese Wege zu umgehen“, sagt Chinyama. Auf diese Weise kommen Kinderhändler an ihre Papiere, die angeblich auch die Mitarbeiter von „Arche de Zoé“ besaßen. Klar ist: 103 Kinder im Osten des Tschad einzusammeln, der nur mit einer Sondergenehmigung bereist werden darf, wäre ohne zumindest Duldung durch Mitglieder des Staatsapparats unmöglich gewesen.

(Copyright Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2.11.07)