Freitag, 2. November 2007

Schmutzige Geschäfte mit den Kindern und der Hoffnung


Aus dem Waisenhaus der Kleinstadt Abéché im Osten des Tschad dringt fröhlicher Kinderlärm. Kleine Jungen kicken einen Ball über den Hof. Mädchen mit großen braunen Augen sitzen kichernd zusammen, wenden sich aber scheu ab, wenn Fremde mit ihnen reden. Doch die Fremden müssen reden und Fragen stellen, damit die Kinder wieder nach Hause können, zu Eltern und Geschwistern. Es ist eine Suche, die noch lange dauern kann und vielleicht erst dann ein Ende findet, wenn die Öffentlichkeit den „gestohlenen Kindern“ von Abéché keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.

Das Waisenhaus von Abéché ist im Moment ziemlich überfüllt. Hierher sind die 82 Jungen und 21 Mädchen, die am vergangenen Donnerstag um ein Haar in einer Chartermaschine Richtung Europa geflogen wären, gebracht worden. „Wir haben mit den Kindern erste Gespräche führen können“, sagt die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Abéché, Annette Rehrl. Und immer häufiger gibt es da Widersprüche zu den Behauptungen der inhaftierten Mitarbeiter der französischen Organisation „Arche de Zoé“, die Kinder seien Kriegswaisen aus der nahen Krisenregion Darfur. „91 Kinder haben mit mindestens einem Elternteil zusammengelebt“, heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht, den das UNHCR mit dem UN-Kinderhilfswerk Unicef und dem Roten Kreuz erstellt hat. Die Geschichte von zwölf Kindern ist noch ungeklärt – auch deshalb, weil das jüngste gerade einmal ein Jahr alt ist.

Die Mehrheit der Kinder stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Tschad und Darfur, die Nationalität ist schwer festzustellen. „Es wird lange dauern, bis wir die Eltern dieser Kinder gefunden haben“, seufzt Rehrl. Andere Behauptungen der sechs für „Arche de Zoé“ arbeitenden Franzosen, die wegen Kinderhandels und Betrugs angeklagt sind, haben sich ebenfalls zerschlagen: etwa die, dass die Kinder in Europa medizinisch behandelt werden sollten. Betreuer in Abéché fanden weder Krankheiten noch Verletzungen bei den Kindern. Unter angelegten Verbänden war unversehrte Haut.

Es mehren sich die Anzeichen, dass „Arche de Zoé“ möglicherweise afrikanische Kinder an betuchte Adoptiveltern in Europa verkaufen wollte. Christine Peligat, die Ehefrau eines der Verhafteten, gab in einem Interview offen zu, dass die Kinder in Familien untergebracht werden sollten. Dafür seien unterschiedlich hohe „Spenden“ an die Organisation gezahlt worden. Zugleich räumt sie ein, dass Tschads Regierung nicht involviert war: „Die Verhandlungen zum Ausfliegen der Kinder sind nur mit dem Flughafen in Abéché geführt worden.“ Den Vorwurf des Kinderhandels weist Peligat dennoch von sich.

Doch Kenner der Szene wundern sich nicht, dass im Osten Tschads Kinder womöglich verschoben werden sollten. In der Region führen Rebellen seit Jahren einen Bürgerkrieg mit der Regierung, Milizen aus dem nahen Darfur fallen immer wieder über Dörfer her. Dazu kommen Lager mit Hunderttausenden Flüchtlingen, die aus Darfur und dem Tschad stammen. Die Menschen sind arm und hoffnungslos, der Staat ist schwach, die Lage unübersichtlich – für Kinderhändler ideal. „Kinderhändler nutzen die Hoffnungen derjenigen, die unter schlimmsten Bedingungen leben, schamlos aus und müssen praktisch keine Strafverfolgung befürchten“, bilanziert Unicef-Regionaldirektor Per Engebak.
Es geht um ein Milliardengeschäft: Jährlich, so schätzt das Büro für Drogen und Kriminalität bei den Vereinten Nationen, werden bis zu sieben Milliarden Euro im Menschenhandel umgeschlagen. Nach Drogen- und Waffenhandel steht der Verkauf vor allem von Frauen und Kindern an Platz drei der illegalen Einnahmequellen, die die organisierte Kriminalität längst für sich erschlossen hat. In Afrika ist die Lage besonders schlimm: 49 der 53 afrikanischen Staaten gaben in einer 2003 veröffentlichten Studie offen zu, dass es bei ihnen Menschenhandel gebe. „Die Fälle, bei denen Kinder in den Westen geschleust werden, machen natürlich die meisten Schlagzeilen“, weiß Victor Chinyama von Unicefs Afrikabüro. „Doch das Gros des Kinderhandels findet zwischen afrikanischen Staaten statt oder sogar innerhalb eines Staates.“

Genaue Zahlen sind deshalb schwer zu erheben. 200000 bis 300000 Kinder, so eine Schätzung, sind jedes Jahr allein in West- und Zentralafrika Opfer des schmutzigen Geschäfts. Sie landen als Zwangsarbeiter auf Plantagen, in Haushalten oder auf dem Strich. Der Kinderhandel in Afrika ist zudem die Quelle, aus der sich internationale Menschenhändlerringe bedienen. Vor wenigen Tagen hat die Polizei im westafrikanischen Ghana einen Mädchenhändlerring ausgehoben, der 18 junge Nigerianerinnen als Prostituierte nach Europa schicken wollte. Andere Mädchen aus westafrikanischen Ländern wie Benin, Togo und Burkina Faso waren bereits auf diesem Wege in die Prostitution nach Europa geschickt worden.

Aus Äthiopien verschwinden jährlich mehrere Tausend Mädchen, um im Nahen Osten als Hausmädchen zu arbeiten. „Die Kinder haben oft schon eine Odyssee vom Land in die Stadt hinter sich, wo sie sich Arbeit erhofft haben“, erklärt Chinyama. Weil dieser Wunsch nur für die wenigsten in Erfüllung geht, lassen sie sich auf das nächste Geschäft mit der Hoffnung ein und verlassen ihr Land.

Die Schicksale der Hausmädchen, die oft im Haus eingesperrt sind und deren Pässe weggeworfen werden, damit sie nicht fliehen können, kennt Chinyama genau. „Die Kinder müssen rund um die Uhr arbeiten, sie werden geschlagen und sexuell missbraucht – es handelt sich um moderne Sklaverei.“ In den Westen werden Kinder hingegen oft schon im Babyalter verschleppt, wo sie an gut zahlende Adoptiveltern verkauft werden.

„Ein afrikanisches Kind zu adoptieren ist hip, seit Stars wie Madonna oder Angelina Jolie es hoffähig gemacht haben“, kritisiert Irene Baumgärtner, die in Nairobi ein Kinderheim leitet. Die Mühlen der afrikanischen Bürokratie mahlen langsam, und teuer ist ein offizieller Adoptionsprozess auch. „Der eine oder andere in der Bürokratie ist durchaus bereit, für Geld diese Wege zu umgehen“, sagt Chinyama. Auf diese Weise kommen Kinderhändler an ihre Papiere, die angeblich auch die Mitarbeiter von „Arche de Zoé“ besaßen. Klar ist: 103 Kinder im Osten des Tschad einzusammeln, der nur mit einer Sondergenehmigung bereist werden darf, wäre ohne zumindest Duldung durch Mitglieder des Staatsapparats unmöglich gewesen.

(Copyright Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2.11.07)