Freitag, 12. September 2008

Weltwunder in der Krise


Das Donnern des Sambesi, der hier mehr als 100 Meter in die Tiefe stürzt, ist ohrenbetäubend. 1,7 Kilometer sind die Viktoriafälle breit. Pro Minute brechen jetzt in der Trockenzeit rund 20.000 Kubikmeter Wasser spektakulär die schroffen Felswände herab, nach der Regenzeit sind es mehr als eine halbe Million. Den Titel "Weltwunder" tragen die Viktoriafälle zu Recht. Umso erstaunlicher, dass kaum noch jemand kommt, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen.

Nur knapp 30 Besucher haben sich seit Anfang September in das Besucherbuch eingetragen, das gleich hinter dem Eingang zum Victoria-Falls-Nationalpark ausliegt. Dabei sind nur hier, von der simbabwischen Seite aus, die Fälle in ihrer ganzen Pracht zu bestaunen. Die Katarakte im sambischen Nationalpark jenseits der Schlucht, die beide Länder trennt, sehen im Vergleich kläglich aus. "Alle sind hierhergekommen, um die Fälle zu sehen", erinnert sich Neva Makoni, der vor 30 Jahren in Victoria Falls geboren wurde. "Die Leute sind von Harare und Johannesburg nach Vic-Falls geflogen, haben hier ein paar Tage übernachtet, gut gegessen und auch sonst viel Geld ausgegeben." Doch diese goldenen Zeiten sind lange vorbei. Spätestens seit den Unruhen nach den Wahlen im März ist Victoria Falls vollends zur Geisterstadt verkommen. Vor dem Nationalpark versuchen die wenigen verbliebenen Souvenirverkäufer, den wenigen Besuchern simbabwische 100-Milliarden-Dollar-Scheine zu verkaufen - als wertloses Souvenir, für 1 US-Dollar. "Früher habe ich selbst Skulpturen aus Stein geschliffen und den Touristen verkauft, aber das habe ich inzwischen aufgegeben", erklärt Makoni. "Es lohnt sich nicht, wenn die Käufer fehlen."

Seit zwei Tagen läuft der 30-Jährige deshalb mit einer unhandlichen Plastiktasche durch die Innenstadt. In ihr steckt eine Steppdecke, die Makonis Frau fein säuberlich zusammengefaltet hat. "Ich will unsere Bettdecke verkaufen, um das Schulgeld für meinen Sohn bezahlen zu können." Im vergangenen Trimester, berichtet Makoni unglücklich, habe die staatliche Vorschule noch umgerechnet 10 US-Dollar verlangt. "Aber jetzt will sie 35, wo soll ich das ohne Arbeit hernehmen?" Zehn Kinder, sagt er, gehen heute noch in die Schule, wo vor ein paar Monaten noch 200 getobt und gelernt haben. Aber der Direktor weigert sich, die Gebühr zu senken. In ein paar Tagen wird die Einrichtung vermutlich ohnehin dichtmachen. "Die Lehrer haben einen Streik angekündigt, weil sie mehr Geld wollen." In der Zeitung wird der Chef der Lehrergewerkschaft zitiert: "In den 80ern konnten sich Lehrer ein Haus leisten, in den 90ern noch ein Auto, heute ist selbst ein paar Schuhe zu teuer." Makoni versteht die Lehrer: "Die meisten sind ja ohnehin schon nach Botswana oder Sambia geflohen, um dort zu arbeiten."

Nicht nur Arbeit ist ein Problem in Robert Mugabes Simbabwe. In dem Gewirr aus Hütten jenseits der Touristenstadt an der Ausfallstraße, wo Makoni lebt, gibt es seit Wochen kein trinkbares Wasser mehr. "Die Leute vom Wasserwerk sagen, sie können wegen der ständigen Stromausfälle das Wasser nicht mehr ordentlich klären", weiß der 18-jährige Tamele, der seinen Nachnamen aus Angst vor Verfolgung nicht nennen will. Hat er denn Strom? "Nein, der war schon lange vor dem Wasser weg." Ein Freund von ihm hat sich kürzlich den Arm gebrochen und ging ins Krankenhaus. "Da haben sie ihn gleich wieder weggeschickt: Wer hier einen Gips will, muss Mull und Gips selber mitbringen." Einen Tag hat es Tamele gekostet, um das Nötigste aufzutreiben. Weil die Vorräte in den Apotheken aufgebraucht waren, brachte eine Bekannte Mullbinden von der anderen Seite der Viktoriafälle aus Sambia mit.

Neva Makoni und Tamele sind Ndebele, wie Morgan Tsvangirai, der Oppositionskandidat, der im fast 1.000 Kilometer entfernten Harare um die politische Macht kämpft. Internationale Beobachter und die meisten Simbabwer sind sich einig, dass Tsvangirai die Wahlen im März gewonnen hat und die "Stichwahl" Ende Juni, die der senile Präsident Mugabe nach einer massiven Einschüchterungskampagne allein bestritt, gegenstandslos ist. Doch Mugabe will die Macht nicht aufgeben, und Tsvangirai bleibt stur. Dass ausgerechnet Südafrikas Präsident Thabo Mbeki, der als Verbündeter Mugabes gilt, zwischen den zerstrittenen Männern vermitteln kann, glaubt in dem Armenviertel am Stadtrand von Victoria Falls niemand. "Mugabe muss abtreten, sonst wird sich nichts ändern", ist Tamele wütend.

Die Ndebele haben es Mugabe nie verziehen, dass er kurz nach der Unabhängigkeit mit Militärgewalt einen Bürgerkrieg vor allem gegen die Ndebele und ihren politischen Führer, Joshua Nkomo, vorging. Mehr als 10.000 Ndebele wurden von einer in Nordkorea ausgebildeten Elitetruppe brutal getötet. Vor den juristischen Folgen dieses Massenmordes zittern heute noch Mugabegetreue in Politik und Militär. "Das ist der Grund, warum sie nicht nachgeben werden", gibt sich Makoni resigniert. "Sie werden Tsvangirai kaltstellen, und dann geht es weiter bergab."

Der Niedergang der einstigen Vorzeigeökonomie Simbabwe, wo die Inflation in diesem Jahr auf mehr als 11 Millionen Prozent geschätzt wird, ist in Victoria Falls auch deshalb so deutlich zu sehen, weil es sich um eine Kunststadt handelt, gebaut für die fehlenden Touristen. 300.000 Übernachtungsgäste zählte Victoria Falls noch 1995. Weil Investoren damals immer mehr neue Hotels bauen wollten, warnten Naturschützer vor schweren Folgen für die Umwelt, sollte sich die jährliche Besucherzahl wie prognostiziert bis 2005 auf fast eine Million erhöhen. Das Hotel Kingdom ist eines der letzten Auswüchse des damaligen Booms: ein monströser Koloss, angeblich der antiken Ruinenstadt Simbabwe nachempfunden. An deren Untergang wird man unweigerlich erinnert, wenn man mit lautem Echo durch die hohen, leeren Hallen in das zentrale Atrium läuft, eine von geschlossenen Restaurants umfriedete Ansammlung von Spielautomaten, die gespenstisch im Halbdunkel leuchten. Wo sind die Gäste? "Das sind Sie", strahlt der verloren wirkende Portier glücklich. "Sie sind derzeit der Einzige hier."

Wer heute überhaupt noch nach Victoria Falls kommt, der übernachtet in Sambia und kommt über die Stahlbrücke, die den unteren Sambesi überquert und beide Staaten verbindet. Ab zehn Uhr früh stürzen sich immer wieder Menschen von der Brücke in die Tiefe. Nicht aus Verzweiflung oder Not, sondern weil sie dafür bezahlt haben: Bungee-Jumping gehört zu den Attraktionen, mit denen sambische Reiseveranstalter vor allem junge Reisende nach Livingstone, dem sambischen Gegenstück zu Victoria Falls, locken. Auch Rafting, Paragliding und Abseilen gehören zu den Rennern. Mit dem Angebot rund ums Adrenalin haben die Sambier aus der Not eine Tugend gemacht. Zusammen mit der Simbabwekrise hat das in der einst verschlafenen Provinzstadt zu einem Bauboom geführt, der Victoria Falls alt aussehen lässt. Wer dennoch nach Simbabwe fährt, um die Fälle zu sehen, tut dies meist ein bisschen ängstlich. "Glaubst du, die lassen uns wirklich wieder raus?", fragt eine österreichische Urlauberin leise ihren Mann, während sie ein Einreiseformular ausfüllt.

Solche Sorgen haben die Simbabwer nicht, die jeden Morgen bei Sonnenaufgang den Weg über die Brücke bis zum ersten sambischen Spar-Supermarkt zurücklegen, zehn Kilometer von der Grenze entfernt. "Um sieben Uhr früh stehen bei uns schon Hunderte Schlange, die Brot kaufen wollen", stöhnt eine der Kassiererinnen, die gerade wieder eine Einkaufswagenladung Toastbrot durchzählt. 40 Stück hat John, einer der Händler, für etwa 50 Euro-Cent pro Stück gekauft. Das Geld zieht er vorsichtig aus seiner linken Socke. Vor der Tür packt er das Brot in große Kartons, dann stellt er sich zu den Simbabwern, die auf der anderen Seite des Parkplatzes auf ein Sammeltaxi warten. In Victoria Falls verkauft John das Brot - für 3 Euro pro Stück. "Ich zahle für das Brot und die Taxifahrt, und die Zöllner wollen natürlich auch Geld sehen." Weil es simbabwisches Brot schon seit Wochen kaum noch gibt, kauft es dennoch jeder, der es sich irgendwie leisten kann. Das Gleiche gilt für Zucker oder Maismehl, das in 25-Kilo-Säcken auf dem Kopf über die Grenze getragen wird. Der kleine Grenzverkehr gehört zu den Absurditäten in Mugabes Simbabwe: Er ist eigentlich verboten, aber jeder toleriert ihn, weil sonst alle hungern würden. Bis ins 500 Kilometer entfernte Bulawayo, Simbabwes zweitgrößte Stadt, und sogar nach Harare reichen die Wege der Kleinhändler, von denen kaum einer mehr als 20 Euro Startkapital hat. Wenn die Sonne rot glühend untergeht über den Viktoriafällen, verstauen sie säckeweise sambische Lebensmittel in den Nachtzug, der ins Landesinnere fährt.

(Copyright die tageszeitung, 12.9.08)

Montag, 8. September 2008

Süßer Tod


Wenn die Sonne den Nebel vertreibt, der am frühen Morgen den Fluss Tana bedeckt, verwandeln sich die Schatten am Ufer in Krokodile. In Gruppen von zehn oder mehr liegen die gelb-grünen Kolosse dort, wo die sumpfige Grasebene auf den Fluss trifft. Ihre scheinbare Behäbigkeit täuscht. Wenn ein unachtsamer Schlag mit dem Ruder die Stille durchbricht, rutschen selbst die wuchtigsten binnen Sekunden den leichten Abhang hinunter und tauchen platschend ins Wasser ein. "Da drüben, ein Mangroven-Eisvogel", lenkt Kazungu den Blick auf rostrot und blau leuchtendes Gefieder in einem Busch. Kazungu ist Führer in der Wildnis von Kenias Küste im Nordosten des Landes. Wer den italienisch dominierten Badeort Malindi mit dem Geländewagen verlässt und immer weiter Richtung Somalia fährt, der landet nach drei Stunden auf holprigen Feldwegen hier im Delta des Tana, der 800 Kilometer weiter westlich im Hochland entspringt und hier in den Indischen Ozean mündet. Viele sind es nicht, die sich hierher verirren.

"Bis vor ein paar Jahren haben die Shifta, somalische Banditen, immer wieder Raubzüge ins Delta hinein veranstaltet", weiß Kazungu, der seit 27 Jahren auf dem Fluss und seinen hunderten Nebenarmen zu Hause ist. Geboren ist der knapp 50-Jährige in Malindi, doch dorthin kehrt er nur zurück, um Benzin oder andere Zivilisationsgüter zu kaufen. "Ich brauche die Natur, die Stille, die Tiere hier draußen." Über den Fluss schwebt ein violetter Reiher, auf Baumstümpfen sitzen riesige Fischadler, auf einer Sandbank hat sich eine Gruppe von Nilpferden versammelt. "Wenn die Shifta-Überfälle etwas Gutes hatten, dann, dass es hier immer noch so aussieht wie vor Jahrzehnten", flüstert Kazungu, während er vorsichtig die Nilpferde umkreist. Doch mit dem Frieden im Tana-Delta könnte es schon bald vorbei sein. Denn wenn es nach dem Willen von Kenias größtem Zuckerproduzenten Mumias geht, werden die Moore und Feuchtwiesen in kurzer Zeit unter einer 20.000 Hektar großen Zuckerrohrplantage verschwunden sein - einer Fläche von der Größe Hannovers.

"Der Großteil der Ernte soll in Bioethanol verwandelt und als Treibstoff nach Europa verkauft werden", weiß Serah Munguti von der Umweltorganisation Nature Kenya. Die dazu nötige Fabrik soll gleich neben den Plantagen errichtet werden. Der aus dem Westen Kenias stammende Zuckerproduzent, der zu dem Projekt eisern schweigt, rechnet mit einem Riesengeschäft: Auch weil der Preis für Rohöl unaufhörlich steigt, prognostiziert Mumias in seinem Projektantrag einen jährlichen Gewinn von mindestens 1,2 Milliarden kenianischen Schillingen (umgerechnet 12 Millionen Euro). Solche Gewinne, sagt Munguti, sind nur realisierbar, weil die wahren Kosten für das Projekt nicht eingerechnet sind. "Mumias will gut ein Drittel des Flusswassers im Delta umleiten, um die Plantagen zu bewässern, mit katastrophalen Folgen für Natur und Bevölkerung." Weite Teile des Deltas würden trockenfallen, Habitate für bedrohte Tier- und Vogelarten verschwinden. Bauern, die ihre Felder nur mit Flusswasser bewirtschaften, säßen auf dem Trockenen. Mit Pestiziden getränkte Abwässer von den Feldern sollen zudem ungeklärt in den Fluss und damit in den Indischen Ozean eingeleitet werden, wo die vorherrschenden Strömungen das Gift gleichmäßig an den Badestränden Kenias verteilen würden.

Munguti und ihre Kollegen haben deshalb bereits eine Gegenrechnung aufgemacht: Die Gewinne aus Landwirtschaft, Viehwirtschaft und der Entwicklung von Ökotourismus in dem bedeutenden Vogeldurchzugsgebiet würden das Dreifache dessen einbringen, was Mumias verspricht. Doch weder Mumias, eins von Kenias größten Unternehmen mit einem Marktwert von fast 300 Millionen Euro, noch die Regierung in Nairobi hat sich bisher zu den Briefen geäußert, die die Umweltschützer seit Monaten schreiben. Selbst die im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung erhobenen Kritikpunkte sind bis heute unbeantwortet. Im Juni gab Kenias Umweltbehörde dennoch grünes Licht - nach einer dreimonatigen "Prüfung", von der Munguti sagt, dass ihr Ergebnis unrechtmäßig ist. "Wir haben gegen die Entscheidung geklagt, und wir gehen davon aus, dass wir Recht bekommen werden." Doch sicher kann man sich dessen in Kenia nicht sein. Der Spruch "Warum einen Rechtsanwalt bezahlen, wenn man den Richter kaufen kann" hat nicht umsonst bis heute Gültigkeit.

Doch nicht alle im Delta sind gegen das Projekt. Der Nordosten Kenias gilt als vergessener Landstrich. Seit Jahrzehnten sind hier nicht einmal die wenigen Straßen unterhalten worden. Wirtschaftshilfen flossen in die Heimatprovinzen der Präsidenten, das Hochland oder das Rift Valley, je nachdem. Dass sich jetzt diese Region zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit ein solches Großprojekt anbietet, begrüßt Ali Omar Buya ganz ausdrücklich. Der Ortsvorstehers von Shirigishu, einem Bauerndorf am Ufer eines mäandrierenden Nebenarms des Tana, wiederholt immer wieder seinen Wahlspruch: "Maendeleo, maendeleo, maendeleo", Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung - im westlichen Sinne. Auf das Dach seiner mit Wellblech gedeckten Lehmhütte hat Buya eine Satellitenschüssel montiert, noch ist sie die einzige im Dorf. An den beiden Kiosks, vor denen Jugendliche in Jeans und T-Shirt herumhängen, dröhnt die Rap-Musik eines lokalen Radiosenders aus scheppernden Lautsprechern. "Wir sind ein Dorf voller Arbeitslosen", beschreibt Buya die Lage. "Mumias hat uns Jobs versprochen, einen Job für jeden Mann im Dorf, und das ist es, was wir brauchen." Landwirtschaft und Handel, von jeher die Lebensgrundlage der sesshaften Pokomo-Volksgruppe, reichten nicht aus, um dem Dorf den verdienten Lebensstil zu sichern. "Das machen wir weiterhin, aber wir brauchen mehr Einkommensmöglichkeiten."

Für kenianische Verhältnisse ist das 1.000-Seelen-Dorf Shirigishu zumindest wohlhabend. Die vom Fluss bewässerten Reisfelder erwirtschaften ebenso gut verkäuflichen Überschuss wie die Felder für Mais, Bohnen und Spinat. Die in den vollen Korrals gehaltenen Ziegen sind fett und sehen gesund aus, und Fischer in ihren Kanus angeln genug Fische aus dem Tana, um den Tisch eines jeden Hungernden zu decken. Es gibt eine Schule und eine Krankenstation in Shirigishu. Doch nach westlicher Lesart sind die Bewohner arm: In den wenigsten Taschen klimpert Geld, und wenn, dann zu wenig. Das Zuckerrohr soll das ändern. "Natürlich wissen wir zwischen Worten und Taten zu unterscheiden", gibt sich der Dorfälteste Abdallah Moyo bedächtig. Die Mumias-Agenten seien im Dorf gewesen, hätten sich die Forderungen angehört und seien seitdem verschwunden. "Wir sind für das Projekt, aber nur, wenn auch wir tatsächlich profitieren."

Von Shirigishu bis nach Darga sind es zwei Stunden Gewaltmarsch durch den Sumpf. Doch wenn es um den geplanten Zuckerrohranbau geht, könnten die beiden Dörfer auch Lichtjahre voneinander entfernt sein. "Mumias will das Land, unser Land, und wir gehen leer aus", regt sich Rafu Bobo auf. Eingewickelt in einen karierten Kanga, dem traditionellen Bekleidungstuch an der Küste, sitzt er im Schatten der örtlichen Moschee auf einer Bastmatte. "Dieses Mumias-Volk ist vor ein paar Wochen in ein Nachbardorf gegangen, und die Bewohner haben sie einfach fortgejagt, so wie wir", grinst der zahnlose Alte. Beide Dörfer werden nicht von Pokomo, sondern von den Orma bewohnt, nomadischen Viehhirten, die vor Jahrhunderten aus Äthiopien ins Tanadelta gezogen sind. In Bobos Kultur dreht sich alles ums Rind. "Selbst wenn du Präsident von Kenia bist, Respekt haben wir nur, wenn du eine große Rinderherde besitzt", erklärt Mohammed Bocha, der Einzige im Dorf, der fließend Suaheli spricht. Früher wanderten die Orma mit Zelten durch das Delta, inzwischen sind sie halbsesshaft geworden. "Frauen, Kinder und Alte bleiben hier, während die jungen Männer mit den Herden durch das Delta ziehen." Überall am Tana sind sie zu sehen, die Herden, die nur wenige Meter von den Krokodilen entfernt Flusswasser saufen. Steht hier erst mal Zuckerrohr, ist es mit dem Tränken vorbei.

Für die Orma steht fest: Sie sind die wahren Besitzer des Landes am Fluss Tana. "Wir haben gegen die Shifta um dieses Land gekämpft, mehr als 400 unserer Männer sind dabei getötet worden", erklärt Bobo. Dass jetzt irgendwelche Männer in einer fernen Stadt ihre hart erkämpften Weiden mit einem Federstrich verkauft haben sollen, kann der Dorfchef kaum glauben. Urkunden wechselten den Besitzer, doch wer die Rechte am "Trust Land" verkauft hat, Land, das der Staat im Auftrag der Bewohner verwaltet und nicht verkaufen darf, ist bis heute ein wohlgehütetes Geheimnis. "Damit ist der lokale Abgeordnete zum Millionär geworden", glaubt Bocha zu wissen, und unwahrscheinlich ist das nicht. Das Weideland, das den Orma als Ersatz angeboten wurde, ist von Tsetsefliegen verseucht, die die gefürchtete Malaria übertragen. In dem Millionengeschäft spielen die Nomaden, deren Lebensweise fast alle sesshaften Kenianer für primitiv und rückständig halten, keine Rolle. "Wer nicht in einem Auto fährt oder in einem festen Haus wohnt, mit dem wird nicht verhandelt", bilanziert Bocha. Doch geschlagen geben will er sich dennoch nicht. "Wir haben die Shifta besiegt, wir werden auch die Invasion mit Zuckerrohr verhindern."

(Copyright die tageszeitung, 8.9.08)