Dienstag, 31. Juli 2007

Die Angst ist geblieben


Der Geländewagen rumpelt hin und her, während der Fahrer sich den Weg durch die krummen Straßen von Goma bahnt. Ausnahmsweise sind es nicht die im Kongo verbreiteten Schlaglöcher, die die Fahrt so beschwerlich machen, sondern erstarrte Lava, die sich beim großen Vulkanausbruch vor fünf Jahren über den Asphalt geschoben hat. Dort liegt sie bis heute. "Damals haben die Leute gesagt: Wie gut, dass der Vulkan ausbricht, dann haben wir wenigstens ein paar Tage lang Ruhe vom Krieg", sagt Gavin Braschi, der für die Hilfsorganisation Don Bosco in Goma arbeitet.

Der Bürgerkrieg, der Mitte der neunziger Jahre begann, hat aus dem einst reichen Handelszentrum im Osten des Kongos ein großes Flüchtlingslager gemacht. Die Einwohnerzahl hat sich auf eine halbe Million verdoppelt, schätzt Braschi. Bis heute kämpfen Rebellen im Umland gegen Truppen der kongolesischen Armee. "In der Stadt haben wir nur deshalb keine offenen Gefechte, weil hier UN-Truppen stationiert sind", sagt Braschi. Doch ob das reicht, damit der brüchige Frieden zwischen den Lavabergen wirklich hält, ist ungewiss.

Ein Jahr, nachdem die 60 Millionen Bewohner im ehemaligen Zaïre zum ersten Mal seit 40 Jahren an einer demokratischen Wahl teilnehmen durften, ist von der erhofften Aufbruchsstimmung in Goma nichts zu spüren. Fast einstimmig ist er hier gewählt worden, der alte und neue Präsident Joseph Kabila. "Frieden und Stabilität im Osten sind meine höchste Priorität", versprach der ehemalige Rebellenführer bei seiner Amtseinführung im Dezember. Doch auf Frieden und Stabilität warten die Bewohner von Goma bisher vergeblich.

Dafür wabern durch die mit bunten Ständen gefüllten Ruinen der alten Markthalle von Goma Gerüchte von einem neuen Angriff. Rebellenführer Laurent Nkunda, der seit Jahren Angst und Schrecken in der Region um den Kivu-See verbreitet, soll einen Angriff auf Goma planen. "Es gibt einen Aufbau bewaffneter Kräfte auf beiden Seiten", bestätigt der Chef der UN-Friedensoperationen, Jean-Marie Guehenno. Die Armee von Laurent Nkunda sei "die derzeit größte Gefahr für die Stabilität im Kongo".

Der Kohlenhändler Philippe ist vor vier Jahren nach Goma geflohen, als Nkunda gerade die Stadt Bukavu gut 200 Kilometer weiter südlich, am anderen Ende des Kivu-Sees, eingenommen hatte. "Nkundas Leute sind durch die Stadt gezogen, haben Frauen vergewaltigt, Läden geplündert und Häuser angesteckt", erinnert er sich an den brutalen Überfall. Die kongolesische Armee habe die Stadt in Panik verlassen, da sei auch er geflohen. "Es gab auch UN-Blauhelme in Bukavu, aber die haben nichts unternommen." Dass Nkunda diesmal vor den Toren Gomas stehen soll, macht Philippe Angst. "Aber ich kann doch nicht schon wieder alles aufgeben, was ich mir mühsam aufgebaut habe", sagt er.

In den Dörfern nördlich von Goma toben die Kämpfe derzeit so heftig wie lange nicht mehr. 165 000 Kongolesen, so schätzen die Vereinten Nationen, sind seit Jahresanfang auf der Flucht. Insgesamt soll es allein in den Kivu-Provinzen 700 000 Flüchtlinge geben. Bisher kehrten die Vertriebenen - die meisten von ihnen sind Bauern - schnell wieder in ihre Heimatdörfer zurück. Doch diesmal machen Mitarbeiter von Hilfswerken erstmals eine bedrohliche Tendenz aus: Die Flüchtlinge richten sich in den Lagern ein - an einen baldigen Frieden glauben sie nicht mehr.

Lucille etwa hat ihren Mann und ihren Sohn bei einem Angriff der Rebellen im Mai verloren. "Ich habe mindestens hundert Leichen gezählt, und viele andere haben sie einfach in die Brunnen geworfen", sagt sie. Wie sie selbst es geschafft hat, bis ins Lager nahe der ugandischen Grenze zu kommen, weiß sie nicht mehr genau. Aber zurück, das weiß sie, will sie nicht.

Was genau der Rebellenführer Laurent Nkunda mit seinen Angriffen im Osten Kongos erreichen will, ist ungewiss. Nkunda gehört zu den Generälen, die für die einst mächtige "Sammlungsbewegung für einen demokratischen Kongo" gekämpft haben. Zwischen 1998 und 2003 kontrollierte diese ethnische Tutsi-Armee im Auftrag Ruandas die reichen Minen im Ostkongo. Doch der einstige Erzfeind Ruanda bemüht sich spätestens seit der Wahl um eine Annäherung an Kabila und seine Regierung. Der politische Arm der Sammlungsbewegung, bis zu den Wahlen noch in der Übergangsregierung vertreten, hat bei den Wahlen zudem eine schwere Schlappe hinnehmen müssen und versank mit nicht einmal sechs Prozent der Stimmen in der politischen Bedeutungslosigkeit. Um Nkunda sammeln sich jetzt diejenigen, die nicht in die kongolesische Armee integriert werden wollen - oder wegen ihrer Kriegsverbrechen Angst vor Prozessen haben.

Doch es ist nicht nur Nkunda, der die Bewohner rund um den Kivu-See zittern lässt. Ein anderer Flüchtling berichtet von einem blutigen Angriff auf sein Heimatdorf in Nord-Kivu. Die Täter waren Soldaten der kongolesischen Armee. "Rebellen hatten einem Armee-Konvoi aufgelauert, daraufhin hat der Offizier einen Vergeltungsschlag durchgeführt", berichtet der Mann, der seinen Namen nicht nennen will. "Sie sind von Haus zu Haus gegangen und haben getötet, egal, wen." Die "International Crisis Group" verurteilt die Armee als den Menschenrechtsverletzer Nummer eins im Kongo: Schuld daran sei vor allem die galoppierende Korruption. Die führt dazu, dass selbst der niedrige Sold von weniger als einem Euro am Tag oft nicht ausgezahlt wird. Die Soldaten, viele von ihnen gerade erst in die Armee integrierte Ex-Rebellen, verlegen sich deshalb auf das, was sie im Krieg gelernt haben. Sie nehmen sich mit Waffengewalt, was sie brauchen. "Wenn Kabilas Regierung nicht ihr Versprechen wahr macht, den Kongo von Grund auf zu verändern, verliert sie ihr letztes bisschen Autorität", warnt Crisis-Group-Experte François Grignon.

Dabei steht Kabila unter Zeitdruck. Der Sicherheitsrat wird Ende des Jahres über eine Reduzierung der UN-Truppen beraten, und die Geberländer haben auch nicht mehr viel Geduld. Noch sind 17 000 Soldaten der UN-Mission Monuc im Ostkongo stationiert, es ist der größte Einsatz seiner Art weltweit. Trotz des Debakels von Bukavu gilt die Truppe im Osten als Garant für wenigstens ein bisschen Frieden, zumal die Tatenlosigkeit bei Nkundas letztem Überfall nicht folgenlos geblieben ist. "Die Monuc ist inzwischen mit Nato- oder EU-Einsätzen vergleichbar", bilanzierte der nach Bukavu entsandte Kommandant Patrick Cammaert bei seinem Abschied im April. In Bukavu hätten die Monuc-Truppen den Rebellen gedroht, ihre Drohungen aber nicht wahrgemacht. "Das hat sich geändert." Seit Monaten sind Monuc und kongolesische Armee in gemeinsamen Einheiten im Einsatz, um die Rebellen zu besiegen. In der letzten Woche vertrieben sie Anhänger Nkundas von einem seiner Stützpunkte in Moramvia, die Soldaten flohen in den dichten Busch. Dort jedoch fühlen sie sich sicher, ebenso wie die auf 70 000 geschätzten Rebellen diverser anderer Gruppen, die sich dort verschanzen.

Der Anreiz, im Kampf gegen Monuc und Regierungsarmee sein Leben zu riskieren, ist hoch. Gold, Diamanten, Kupfer oder Coltan liegen im Ostkongo buchstäblich zum Greifen nah unter der Erde. Nach Jahrzehnten der Anarchie im Osten kontrollieren Banden in vielen Orten auch jetzt noch den lukrativen Schmuggel, der oft von Kindern im Tagebau gewonnenen Rohstoffe. "Von den 60 offiziell betriebenen Minen sind zudem nur sechs in Betrieb", bemängelt Kongos Vize-Minister für Mineralabbau, Victor Kasongo. Seine Behörde hat damit begonnen, die Schürflizenzen zu überprüfen. Doch der Prozess geht so schleppend voran, dass der für August geplante Abschluss gerade wieder um zwei Monate verschoben wurde. Die Kontrolle des Holzeinschlags im Kongobecken, an dem maßgeblich auch eine Tochter der deutschen Danzer- Gruppe beteiligt ist, steht noch ganz am Anfang. Steuereinnahmen, die der von jahrzehntelanger Korruption geschwächte Staatsapparat zum Bau von Straßen und anderer Infrastruktur dringend bräuchte, gibt es kaum.

Die Hoffnung aufgeben will in Goma dennoch niemand. Inmitten der Lava, die sich auch mal einen halben Meter hoch türmt, ziehen Vertriebene in eine Art Mustersiedlung aus skandinavisch anmutenden Holzhäusern ein. Eine von ihnen ist Mama Rafiki, eine lebensfrohe 18-Jährige, die ihren Sohn auf dem Arm trägt. "Ich lebe in schwierigen Zeiten, aber deshalb muss ich ja nicht meinen Sinn für Schönheit verlieren", sagt die junge Mutter und präsentiert stolz ihr neues Zuhause. Rund um den Garten hat sie eine Mauer aus Lavastein gezogen, an den Hauswänden rankt ordentlich gestutzter Efeu. Wäre es nicht Goma, Mama Rafikis Reich könnte aus einem Ferienhauskatalog stammen. "Die Frauen zahlen einen Teil der Baukosten ab, danach gehört ihnen das Haus", erklärt Gavin Braschi vom Don-Bosco-Orden .

Damit die Flüchtlingssiedlung nicht zum Ghetto wird, werden die Bewohnerinnen - meist sind es Frauen - dazu ermuntert, ihre Grundstücke nach eigenem Geschmack zu gestalten. "Die Besitzer müssen sich auch um ihre Einrichtung kümmern, wir machen hier kein Disneyland", sagt Braschi.

Mama Rafikis Mann verdient als Gelegenheitsarbeiter ein paar kongolesische Francs am Tag, sie selbst schließt gerade ihre Mechanikerausbildung ab. Mit viel Geduld arbeiten die Rafikis an ihrem kleinen Glück. An einen Überfall, an die Flucht vor Rebellen, daran mag Mama Rafiki nicht denken.

Dort, wo die Villen stehen, über der spiegelnden Wasserfläche des Kivu-Sees, ist man nicht ganz so naiv. Vor den protzigen Neubauten stehen bewaffnete Wachen, die schweren Tore sind mit Metallspitzen gesichert. "Es sind vor allem Politiker, die sich hier an der kongolesischen Riviera ihre Ferienhäuser bauen", berichtet Braschi im Vorbeifahren. Am Wochenende fliegen viele von ihnen hierher, um der hektischen, schwülen Hauptstadt für ein paar Stunden zu entfliehen. Die Bauwut der neureichen Politiker macht Braschi auch ein bisschen Hoffnung. Wer in Goma baue, so glaubt er, habe schließlich auch ein ganz persönliches Interesse an mehr Stabilität in der Region.

(Copyright Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.7.07)

Donnerstag, 26. Juli 2007

Gewinnspiele im Röhrenradio


Auf einer zersplitterten Gemüsekiste hockt der grauhaarige François vor seinem Haus, einer brüchigen Lehmhütte am Kilometer 5, dem größten Slum von Bangui, Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik. Die Sonne steht tief am Himmel, in einer halben Stunde wird es, von ein paar Kerosinlampen abgesehen, stockduster sein. "Da, ich kann was hören", ruft François aus, der seit Minuten an der Stellschraube eines alten Röhrenradios dreht. Ein lautes Pfeifen dringt aus dem zerschlissenen Lautsprecher, irgendwo dahinter ist eine verzerrte Stimme zu hören: "18 Uhr in Paris, hier sind die Nachrichten für Afrika." François lehnt sich zufrieden zurück. "Die Nachrichten höre ich seit mehr als 30 Jahren jeden Abend, sonst ist der Tag nicht komplett." Anfangs, erinnert sich François, gab es Zeiten, in denen er sein Radio im Verborgenen einstellen musste auf den Kurzwellensender aus Paris. "Nachdem sich Bokassa zum Kaiser gekrönt hatte, verlangte er von seinen Untertanen, nur zentralafrikanisches Radio zu hören, sonst nichts."

Der durchgeknallte Diktator, der sich 1977 im napoleonischen Stil krönen ließ und für seine Party mit 24.000 eingeflogenen Flaschen Champagner und 60 Mercedes-Limousinen an einem Tag den Jahresetat eines der ärmsten Länder der Welt auf den Kopf schlug, kannte keine Hemmungen. Radio Centrafrique berichtete in bester Staatsradio- Tradition nicht nur von Bokassas Exzessen, sondern auch von den neuesten Titeln, die der Diktator sich gerne verlieh - etwa "Erster Bauer und erster Unternehmer des Staates". Untermalt wurde das Ganze von "traditioneller zentralafrikanischer Marschmusik", die Bokassa in seinem Palast - "mein Versailles", wie er selbst sagte - auf Schallplatten pressen ließ. Auf dem verfallenen Gelände zeugt davon heute nur noch ein düsterer Raum, in dem sich Termiten und Spinnen eingenistet haben. "Dabei gibt es gar keine Marschmusik in unserem Land, das hat Bokassa alles erfunden", schüttelt Macaire Mbomba den Kopf. Mbomba ist Kommandeur der Truppe, die den von Blättern überwucherten Palast heute bewacht. Doch Bokassa wusste um die Kraft des Radios: Bis heute glaubt das Gros der Bevölkerung, dass Marschmusik zum kulturellen Erbe der Republik im Herzen Afrikas gehört.

Von der düsteren Vergangenheit als Propagandawelle hat sich Radio Centrafrique bis heute nicht erholt. Wahrheitsgehalt wird in Bangui einzig dem Auslandsrundfunk der ansonsten nicht sonderlich beliebten Kolonialmacht Frankreich zugesprochen. Anderswo in Afrika ist das ähnlich. "Ich bin gefeiert worden wie ein Rockstar", erinnert sich Tido Mhando, der nach mehr als 20 Jahren beim suahelisprachigen Dienst der BBC eine Abschiedstournee durch seine Heimat Tansania machte. "Wir sind in einem Bus von Dorf zu Dorf gefahren, und die Hörer haben mir Löcher in den Bauch gefragt und ständig Autogramme gewollt. Das war ein einmaliges Erlebnis!" Im englischsprachigen Afrika gilt die BBC als Instanz. Mhando wurde berühmt, als er nach dem rätselhaften Tod von Kenias Außenminister Ouko über die Hintergründe des mutmaßlichen politischen Mords berichtete. In den repressiven Jahren der Moi-Diktatur trauten sich nur wenige, den Mund so weit aufzumachen. "Bei der BBC hat die Berichterstattung eine klare Aufgabe", sagt Mhando, der zuletzt Chef der Suaheli-Programme gewesen ist. "Wenn etwa ein Krieg ausbricht, dann berichten wir auch, wer Schuld daran trägt, dass er nicht verhindert wurde." Der Erfolg gibt Mhando Recht: Mehr als 20 Millionen Hörerinnen und Hörer schalten täglich alleine die Programme in Suaheli ein.

Dagegen ist der Staatssender KBC, die Kenyan Broadcasting Corporation, ein kleines Licht. Mitten im Stadtzentrum liegt die Sendeanstalt, geschützt durch eine stacheldrahtbewehrte Mauer. Schilder wie "Kein Zutritt" und "Fotografieren verboten" halten den potenziellen Besucher auf Abstand. KBC, 1928 als Infowelle für weiße Farmer gegründet, wurde Mitte der 60er zur "Stimme Kenias" umgetauft und erlebte ähnliche Jahre wie Radio Centrafrique, wenn auch ohne größeren Wahnsinn und Marschmusik. Seit 1989 heißt die KBC wieder KBC und sucht nach ihrer Identität. "KBC ist die führende Sendeanstalt des Landes", verkündet Sprecherin Lucy Kudate stolz, und damit hat sie Recht. In weiten Teilen des dünn besiedelten Landes, außerhalb der großen Städte, ist schlicht keine andere Station zu empfangen. Dazu kommt, dass KBC als einziger Sender nicht nur in Suaheli und Englisch, sondern auch in 18 Stammessprachen sendet. Doch während diese Programme immer noch staatstragend mit Fanfare und tiefer Sprecherstimme mehr verkündet als gesendet werden, versucht der neue KBC-Chef Waithaka Waihenya, das Unternehmen fit im Kampf gegen die private Konkurrenz zu machen.

Der Reggae-Sender "Metro FM" ist das Flaggschiff der "neuen KBC" und von den gut 20 anderen kommerziellen Sendern in Nairobi kaum zu unterscheiden. Kritiker werfen dem Staatsbetrieb vor, gegen seinen Sendeauftrag zu verstoßen, indem er die wenigen Wortflächen vor allem mit Call-in-Spielen füllt. Doch im Kampf um einen Anteil an der schwindenden Zahl von Radiohörern ist KBC jedes Mittel recht. "Viele Kenianer können nicht lesen, für die war Radio jahrzehntelang das einzige Medium, das Tag und Nacht lief", erklärt der Marketingchef eines großen Privatsenders in Nairobi. "Heute hat selbst im Slum fast jeder einen Fernseher. Wer mit Radio die zahlungskräftige und für die Werbewirtschaft interessante Elite erreichen will, der muss sich schon was einfallen lassen." Bei deutschen Privatsendern würde der gleiche Vortrag kaum anders klingen.

David Makuyu verkörpert den Geist des Kommerzradios, und den heiligen Geist gleich noch dazu. Der 30-jährige Programmdirektor von "Hope FM" (Motto: Listen and live) sitzt in Maßanzug und mit Rhett-Butler-Bärtchen vor einem leeren Schreibtisch. Aus seinem Handy dröhnt das laufende Programm. "Unsere Sendungen sollen den Hörern helfen, näher zu Gott zu kommen", erklärt Makuyu, der Mitglied der größten Pfingstkirchengemeinde der Stadt ist. Aus dem Schatten der Kirche, die an Sonntagen tausende Gläubige fasst, sendet Hope FM. Doch während sich on Air eine populäre Mischung aus Gospelchören und Rhythm & Blues, Urban Gospel genannt, mit dem Sprechstakkato eifriger Prediger abwechselt, klingt der studierte Kommunikationswissenschaftler Makuyu vor allem weltlich: "Christliches Radio war vor vier Jahren, als wir angefangen haben, ein noch unerschlossener Nischenmarkt." Den hat Hope FM mit Erfolg besetzt: Jeder sechste Nairobianer schaltet den Sender heute ein, viele haben auf der Homepage des Senders Bibelverse und Tagesmotti per SMS abonniert.

Auf seine Hörer, die größtenteils der zahlungskräftigen jungen Mittelschicht angehören, ist Makuyu stolz. Dennoch gibt es ein Problem, für einen Kommerzsender sogar ein großes. "Viele Firmen wollen nicht bei uns werben, weil sie Angst haben, sich religiös festzulegen." Deswegen sendet Hope FM seit einiger Zeit offiziell auch für Nicht-Christen, selbst im überwiegend muslimischen Mombasa hat der Sender inzwischen eine Frequenz gemietet. In den Gewinnspielen sind nicht mehr nur Bibeln und religiöse Pamphlete, sondern auch Handys und Airtime zu gewinnen. Nur die Fragen sind die gleichen geblieben: Wer nicht weiß, wie der politische Berater der alttestamentarischen Königin Esther hieß, zieht schnell einmal den Kürzeren. Das News-Programm muss hingegen mit wenig Platz auskommen: Maximal 90 Sekunden hat der Sprecher, um das Neueste aus Politik und Kirche zu berichten. Echtes Privatradio also.

So sehr ist der Radiomarkt in den meisten Teilen Afrikas schon kommerzialisiert, dass die BBC in diesem Jahr erstmals die "Africa Radio Awards" auslobte, um Qualitätsjournalismus auf Afrikas Mittel- und Ultrakurzwellen zu fördern. Als beste neue Radiostation wurde dabei "Radio Pacis" ausgezeichnet, das weit entfernt von allen Werbemärkten im ugandischen Arua sendet. Arua liegt nicht weit von der Grenze zum Kongo entfernt; die meisten Hörer des Senders sind Flüchtlinge des seit mehr als zwanzig Jahren brodelnden Kriegs zwischen ugandischen Truppen und der brutalen "Widerstandsarmee des Herrn". "Radio Pacis ist ein Vorbild für das, was Stationen außerhalb der großen Städte leisten können", begründet Juror und BBC-Urgestein Robin White den Preis, der in einem neuen Studioequipment besteht. "Der Sender leistet sich Nachrichtenjournale aus der Region, Studiodiskussionen und spezielle Sendezeit für Frauen, Kinder und andere Gruppen."

Doch trotz der Ehrung geht Radio Pacis derzeit auf dem Zahnfleisch: Immer mehr Mitarbeiter ziehen nach Kampala, um dort bei einem kommerziellen Sender ihr Glück - und mehr Geld - zu machen. "Wir trainieren Nachwuchs, aber es ist hart", sagt der Manager, Sherry Meyer. Doch aufgeben will er nicht. In Gegenden wie Arua ist das Radio bis heute die einzige existierende Informationsquelle - so wie noch vor wenigen Jahrzehnten in ganz Afrika.

(Copyright die tageszeitung, 26.7.07)

Dienstag, 24. Juli 2007

Meinung: Sudans ewiges Spiel auf Zeit


Vor etwas mehr als einem Monat verkündete ein Sprecher der Afrikanischen Union (AU) die gute Nachricht: Sudans Regierung habe einer Friedenstruppe für Darfur zugestimmt, die gemeinsam von UN und AU geführt werden soll. Monatelange Diplomatie und Druck zuletzt sogar von Sudans großzügigem Unterstützer China soll Khartum dazu bewegt haben, den jahrelangen Widerstand gegen eine internationale Truppe aufzugeben. Ein Oberbefehlshaber wurde ernannt. In nicht einmal einem halben Jahr, so hofften Diplomaten, würden bis zu 26 000 Friedenssoldaten der seit vier Jahren währenden Krise ein Ende bereiten.

Doch jetzt hat das Regime von Präsident Omar al Baschir, der sich mit Hilfe von Islamisten 1989 an die Macht putschte, der internationalen Gemeinschaft erneut einen Strich durch die Rechnung gemacht. Man sei wohl "missverstanden" worden, verkündete Innenminister Zubeir Baschir Taha am Wochenende. "Selbstverständlich werden wir nicht akzeptieren, dass ausländische Truppen Waffengewalt zum Schutz der Bevölkerung einsetzen dürfen." Dieses robuste Mandat aber hatte der UN-Sicherheitsrat als wichtigen Bestandteil der Mission betrachtet. Sudans UN-Botschafter Abdalmachmud Abdalhalim ergänzte vorsorglich: "Wir warnen vor der Verabschiedung einer UN-Resolution, der wir nicht zugestimmt haben".

Khartum spielt wieder auf Zeit. Das Regime, dessen Luftwaffe seine Kampfbomber weiß streicht und als UN-Hilfsflieger tarnt, ist auf dem besten Wege, die afrikanischstämmige Bevölkerung in Darfur endgültig zu verjagen. Zehntausende Araber aus Nachbarländern siedelt Khartum derzeit in Darfur an, um den in Flüchtlingslager geflohenen Bauern ihr Land zu nehmen und für den Ernstfall neue Kämpfer zu haben. Die von der Regierung ausgerüsteten Dschandschawid ermorden Flüchtlinge, die sich nur wenige hundert Meter aus den Lagern herauswagen, um Brennholz zu suchen. Auch jenseits der Grenze im Tschad sind die Vertriebenen vor den Übergriffen der Dschandschawid nicht sicher.

Die 7 000 AU-Beobachter, die derzeit in Darfur den nicht vorhandenen Frieden kontrollieren sollen, sind machtlos und werden nicht einmal bezahlt. Dass die gegen Khartum kämpfenden Rebellen nicht zuletzt wegen des international moderierten und letztlich gescheiterten Friedensprozesses heillos zerstritten sind, macht die Lage noch unübersichtlicher. Hilfsorganisationen versorgen weite Teile Darfurs nicht mehr, weil sich die Überfälle auf ihre Mitarbeiter so gehäuft haben.

Dröhnend wird derzeit die Propaganda-Maschinerie angefahren. "Darfur ist fast überall sicher und friedlich", erklärte Präsident Baschir am Sonntag seinem Kabinett, das er zu einer öffentlichen Sondersitzung zusammengerufen hatte. Während einer dreitägigen Reise habe er gesehen, dass die Menschen ein "normales Leben" führten. Berichte von Angriffen, Völkermord oder humanitärer Krise seien Lügen aus dem Westen. Ein paar Tage zuvor hatte Baschir bereits behauptet, die auf zweieinhalb Millionen geschätzten Flüchtlinge seien spätestens in einem Monat wieder zu Hause: "Die Friedenssoldaten werden nichts zu tun haben."

Wer da noch an eine diplomatische Einigung mit Khartum glaubt, ist ein unverbesserlicher Optimist oder kennt Baschirs Regierung nicht. Den blutigen Konflikt im Südsudan ließ Baschir 20 Jahre lang toben, bis er 2005 ein Friedensabkommen unterzeichnete, das seine Unterstützer schon längst wieder torpedieren. Der Konflikt in Darfur lässt sich nur beenden, wenn Khartum auch militärisch unter Druck gerät. Die Entsendung einer Eingreiftruppe an die tschadisch-darfurische Grenze, wie sie die EU erwägt, wäre dafür ein erster wichtiger Schritt.

(Copyright Berliner Zeitung, 24.7.07)

Montag, 23. Juli 2007

Swinging Nairobi


Die Bewohner von Kenias Hauptstadt sind bodenständige Menschen. Inmitten des Chaos steht der Nairobianer festungsgleich mit beiden Beinen auf der Erde, nichts wirft ihn aus der Bahn. Doch seit einer Woche ist das anders. "Kenia ist erschüttert", schreibt die größte Tageszeitung Daily Nation. Das ist wörtlich gemeint, denn die Stadt wird erstmals seit Jahrzehnten von fühlbaren Erdstößen heimgesucht. Zehn waren es bis jetzt, mit Stärken bis zu 6,0 auf der Richterskala - freilich nicht in Nairobi, sondern am Epizentrum nahe der Grenze zu Tansania. Aber die ist ja nur 100 Kilometer entfernt!

Obwohl Seismologen die Beben für vernachlässigbar halten und vor Panik warnen, ist die Stadt ins Wanken geraten. Nairobi swingt, es gibt nur noch ein Gesprächsthema: Im Supermarkt diskutiere ich mit der Kassiererin und anderen Kunden, wo man sich im Haus am besten schützt - unter, neben oder weit weg vom Türrahmen. Noch mehr stellt sich die Frage in den Jahrzehnte alten Hochhäusern im Zentrum. Als ich mein Auto anmelden wollte, traf ich die Angestellten der Behörde auf dem Gehsteig: In ihr Büro wollten sie vorläufig nicht zurück. Man kann ihnen das nicht übel nehmen: Nairobis Bürohäuser gelten auch ohne Erdbeben als baufällig.

Bisher klirren zwar nur Fensterscheiben, in Kneipen sollen Bierflaschen vom Tisch gefallen sein. Doch ein politisches Erdbeben hat die Tektonik im afrikanischen Grabenbruch ausgelöst: Die Opposition kritisiert die Regierung wegen fehlender Katastrophenpläne, es stellt sich heraus, dass vier der fünf Erdbebenmessstationen nicht funktionieren.

Weil deshalb verlässliche Daten fehlen, informieren sich die Nairobianer selbst. Nachts um vier weckte mich mein Nachbar, um mir mitzuteilen, jetzt stehe er bevor - der große Erdstoß, Sie wissen schon, schützen Sie sich. Dann legte er auf. Ich zog die Decke fester über den Kopf, irgendwann viel später schlief ich wieder ein. Ich fühlte mich ähnlich hilflos wie die Anhänger christlicher Sekten, von denen es in Kenia nicht wenige gibt. Deren Prediger warnen seit Tagen vor dem unmittelbar bevorstehenden Weltende.

(Copyright Berliner Zeitung, 23.7.07)

Sex-Vorwürfe gegen UN-Blauhelme


Wenn in Bouaké im Norden der Elfenbeinküste die Sonne unterging, fing für viele UN-Blauhelme der Tag offenbar erst richtig an. Hunderte marokkanischer Soldaten, so berichtete die UN-Abteilung für interne Kontrolle am Freitagabend dem UN-Sicherheitsrat, sollen sich dann an Mädchen vergangen haben, von denen manche gerade einmal dreizehn Jahre alt waren. Dabei habe es sich nicht um Einzelfälle gehandelt, so die UN-Kontrolleure, sondern um systematisch organisierten Missbrauch. Wenn Truppen Bouaké verließen, wurden die Mädchen an die nachrückenden Soldaten weitergereicht. Begonnen haben soll das kriminelle Treiben vor drei Jahren, kurz nach Beginn der UN-Mission 2003. Einige der minderjährigen Opfer sind seitdem schwanger geworden und wurden mit ihren Babys zurückgelassen.

Die UNO, die wegen Missbrauchsvorwürfen gegen ihre Blauhelme seit Jahren am Pranger steht, griffen daraufhin in Bouaké so hart durch wie noch nie. Ein ganzes Kontingent, 734 Soldaten, wurde suspendiert. "Niemand von ihnen nimmt noch an unseren Einsätzen teil", versichert der Sprecher der UN-Mission in der Elfenbeinküste, Hamadoun Touré. Bis die Vorwürfe aufgeklärt sind, dürfen die Blauhelme ihre Kaserne nicht verlassen.

Insgesamt hat die UNO etwa 9.000 Soldaten in der Elfenbeinküste, die nach jahrelanger Teilung des Landes Neuwahlen Anfang 2008 vorbereitet. Der Sicherheitsrat hatte die Mission deshalb erst Anfang vergangener Woche bis Januar verlängert.
Die Missbrauchsfälle von Bouaké zeigen das ganze Dilemma der UNO auf, die die sexuelle Ausbeutung der lokalen Bevölkerung durch ihre Truppen jahrzehntelang ignorierte. Erst ein 2005 veröffentlichter Untersuchungsbericht aus Bunia im Kongo, der zahlreiche Vorwürfe des Missbrauchs Minderjähriger bestätigte, sprach von einer "Kultur der Straflosigkeit" unter den Soldaten. UN-Generalsekretär Kofi Annan kündigte daraufhin eine "Null-Toleranz-Politik" an.

Weitere Vorwürfe etwa in Liberia und Haiti wurden untersucht. Die Tatsache, dass die Missbrauchsfälle in Bouaké aufgedeckt wurden, können die UN-Kontrolleure als Erfolg verbuchen. Sie waren bei einer Aufklärungskampagne in Bouaké auf die Vorfälle aufmerksam geworden und hatten ermittelt.

Doch mit der Idee, Strafen für des Missbrauchs überführte Blauhelme festzuschreiben und einen Fonds für die Opfer und ihre Kinder zu gründen, scheiterte Annan am Widerstand der auf ihre Souveränität bedachten Mitgliedsstaaten. "Wer von uns überführt wird, wird nach Hause geschickt", beschreibt Touré das Repertoire an Strafen, das die UN zur Verfügung haben. Ob die Missbrauchsfälle gerichtlich untersucht oder die Taten disziplinarisch geahndet werden, bleibt allein dem Entsenderland überlassen. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass überführte Blauhelme aus Bouaké eines Tages wieder an einer anderen UN-Mission teilnehmen. Vor zwei Jahren hatte Marokko immerhin acht Soldaten vor Gericht gestellt, die im Kongo Kinder missbraucht hatten. Zum derzeitigen Fall hat Rabat sich noch nicht geäußert.

Offiziell ist UN-Blauhelmen weltweit inzwischen jeder sexuelle Kontakt zur einheimischen Bevölkerung untersagt, jeder Teilnehmer an einer Friedensmission muss einen Verhaltenskodex unterzeichnen. Doch in einer seiner letzten Reden als UN-Generalsekretär gab sich Kofi Annan im Dezember resigniert: UN-Blauhelme seien trotz aller Bemühungen bis heute an Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch und Menschenhandel beteiligt.

(Copyright die tageszeitung, 23.7.07)

Freitag, 20. Juli 2007

Somalias langer Weg zur Versöhnung


Nur wenige Stunden, bevor die "Nationale Versöhnungskonferenz" für Somalia mit den Diskussionen über einen dauerhaften Frieden begann, fielen am Bakara-Markt im Süden Mogadischus die ersten Schüsse. Die Gegner der von Äthiopiens Armee gestützten Übergangsregierung boten Granaten, Raketenwerfer und schwere Geschütze auf. "Der Himmel stand in Flammen", berichtet ein Bewohner. Der Donner der Gefechte war in der ganzen Stadt zu hören. Zu Mittag wurde der Konferenzort mit Granaten beschossen - sechs Zivilisten starben, unter ihnen fünf Kinder.

Am Morgen danach hatten die regierungstreuen Truppen die Lage wieder unter Kontrolle. Dabei soll die Versöhnungskonferenz eigentlich dafür sorgen, dass solche Übergriffe schon bald der Vergangenheit angehören. Doch schon am Sonntag musste sich die Versammlung mit 1300 Delegierten nach dem Eröffnungsakt vertagen - der angeblich sichere Veranstaltungsort war beschossen worden. Am Donnerstag machte Premier Ali Mohammed Ghedi den Teilnehmern Mut, die innerhalb von 75 Tagen die Probleme von 16 Jahren Regierungslosigkeit am Horn von Afrika lösen sollen: "Wir wollen der internationalen Gemeinschaft beweisen, dass wir Frieden und Stabilität in unserem Land erreichen können."

Doch lange wurde im mit Weihnachtsgirlanden geschmückten Zelt auch am Donnerstag nicht diskutiert. In Somalia glaubt ohnehin praktisch niemand an den Erfolg des Kongresses. Die Islamisten, die Mogadischu seit Monaten mit Angriffen überziehen, will die Regierung nicht teilnehmen lassen. Die wenigen Moderaten in der "Union islamischer Gerichtshöfe" weigern sich ihrerseits, zu verhandeln, solange die äthiopischen Truppen im Land sind. Doch ohne die äthiopische Armee im Land, das weiß die Übergangsregierung, wäre die Lage längst vollkommen außer Kontrolle.

Nur unter dem Druck der EU war die Regierung überhaupt bereit, der Konferenz zuzustimmen. EU-Entwicklungskommissar Louis Michel hatte zuvor klar gemacht: ohne allumfassende Versöhnungskonferenz keine Hilfsgelder. Doch selbst Mitglieder des Hawiye-Clans, der in Mogadischu die Mehrheit stellt und dessen Unterstützung die Regierung dringend braucht, haben ihre Teilnahme abgesagt.

Umso erstaunlicher, dass die Versöhnungskonferenz von Diplomaten und Hilfsagenturen in Nairobi seit Monaten so unterstützt wird, als sei sie der Garant für den Frieden für Somalia. Eine Million US-Dollar sind schon überwiesen, um die ersten Kosten zu decken, heißt es in einem internen EU-Papier.

Washington hat fünf Millionen versprochen. "Wir wissen, dass die Versöhnungskonferenz kaum etwas bringen wird", sagt anonym ein EU-Diplomat. "Aber wir finanzieren sie trotzdem - welche Alternative haben wir?"

(Copyright Der Standard, 20.7.07)

Sonntag, 1. Juli 2007

Kleine Sklaven


Peter ist seit sechs Uhr auf den Beinen. Jetzt, zwei Stunden später, sticht die Sonne erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel über dem Norden Kenias. Vorsichtig setzt Peter Ekai ein Bein vor das andere, die beiden großen Säcke auf seinem Kopf wanken hin und her. Peter ist sechs Jahre alt. „Kakuma ist noch eine Stunde entfernt“, mahnt eine der Frauen, die mit Peter und gut 20 anderen Kindern vor Sonnenaufgang aufgebrochen ist. Dort, im sudanesischen Flüchtlingslager, will Peter die Holzkohle, die er selbst hergestellt hat, zu Geld machen.

„Für zwei Säcke bekomme ich 80 Schillinge, wenn die Käufer nicht zu sehr handeln“, hofft Peter, als das riesige Lager endlich in Sichtweite gerät – etwa einen Euro. Von der freien Grundschulausbildung, die Kenias Regierung vor fünf Jahren eingeführt hat, weiß Peter nichts. Hier oben in der trostlosen Turkana-Region sind die meisten Schulen wegen der Kriege zwischen Viehdieben ohnehin meist geschlossen. Das Land ist so trocken, dass sich kaum etwas anbauen lässt – Ziegen und Rinder, die von verfeindeten Nomadenstämmen durch die Halbwüste getrieben werden, sind der einzige Reichtum.

Hoffnung auf einen Schulbesuch hat Peter nicht. Er kennt nichts anderes als Arbeit. Schlimm ist es nur dann, sagt der Sechsjährige in brüchigem Swahili, wenn er seine Ware nicht los wird. „Dann muss ich die Säcke in der Mittagshitze zurücktragen, und zu essen gibt es an dem Tag auch nichts.“ Von den 80 Schillingen kauft Peter normalerweise ein wenig Maismehl, das für ihn und seine kranke Mutter zu Hause reicht.

200 Millionen Kinder weltweit, so gibt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in seiner jüngsten Studie zur Gewalt gegen Kinder an, geht es wie Peter: Sie malochen, anstatt zur Schule zu gehen oder zu spielen. Mehr als die Hälfte von ihnen, 126 Millionen, arbeiten unter besonders gefährlichen Bedingungen. Lange Arbeitstage sind die Regel, Prügel ebenso. Und die Zahl der arbeitenden Kinder in Kenia, so UNICEF-Regionaldirektor Per Engebaek, steigt seit Jahren an. „Die Armut ist groß und viele Eltern sterben an AIDS. Das heißt, dass die Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen, um zu überleben.“ Alleine in Kenia gibt es drei Millionen AIDS-Waisen, fast ein Zehntel der Bevölkerung.

Weg zur Prostitution ist kurz

In ländlichen Regionen wie in Turkana, wo Peter seine Holzkohle verkauft, werden vor allem Mädchen „in die Stadt geschickt“. Dort arbeiten sie als Haushaltshilfen für Verwandte, Bekannte oder andere, die den Eltern ein hungriges Kind abnehmen. „Manche Kinder sind gerade mal sieben, wenn sie auf einmal rund um die Uhr Sklavenarbeit im Haushalt leisten müssen“, weiß Engebaek. Bezahlt werden die Kinder fast nie, fast immer aber misshandelt oder sexuell missbraucht. „Ich habe Angst aufzuschreiben, was der Mann mit mir nachts macht“, vermerkt ein kenianisches Mädchen in einem Tagebuch, das UNICEF veröffentlicht hat. Besonders schlimm ist, dass die meisten Kinderarbeiter im Haushalt keine Schutzperson haben, an die sie sich wenden können.

Der Schritt von der Sklavenarbeit zur Prostitution ist kurz. Gut ein Viertel der Kinderprostituierten, so zeigen UNICEF-Zahlen aus Ostafrika, haben diesen Weg hinter sich. An Kenias Küste verkaufen 15 000 Mädchen und Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren ihren Körper zumindest gelegentlich an Touristen und Einheimische – das ist jedes dritte Kind. „Viele mittellose Eltern sehen die Prostitution ihrer Kinder als den einfachsten Weg, vom Touristengeschäft zu profitieren“, sagt Sarah Jones, die die Situation an der Küste untersucht hat. „Sie schicken ihre Kinder an den Strand, um Geld zu machen.“ Zehn Prozent der Kinderprostituierten, so haben Jones Umfragen ergeben, haben ihr „erstes Mal“ Jahre vor der Pubertät erlebt.

In Kenia sorgte Jones Studie Ende vergangenen Jahres für helle Aufregung. Doch selbst Kenias Vizepräsident Moody Awori musste kürzlich zugeben, dass sich seitdem nichts geändert hat: Die Polizei, so scheint es, verdient an dem schmutzigen Geschäft kräftig mit und tut nichts, um es zu unterbinden. „Die meisten Deutschen wollen junge Mädchen, keine alten Frauen“, erklärt die 17-jährige Lucy, die am Strand von Mombasa auf Freier wartet. Andere Jobs gebe es nicht, sagt sie, außerdem verdiene sie in einer guten Nacht mehr als der Durchschnittskenianer in einem Monat. Angst hat sie nur vor einem: AIDS. „Die meisten wollen, dass ich es ohne Kondom mit ihnen tue.“ Viele derjenigen, die in Kenia früh zur Kinderarbeit gezwungen werden, werden so noch als Kinder zu Grabe getragen.

(Copyright Erziehung und Wissenschaft 7/8 2007)