Sonntag, 1. Juli 2007

Kleine Sklaven


Peter ist seit sechs Uhr auf den Beinen. Jetzt, zwei Stunden später, sticht die Sonne erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel über dem Norden Kenias. Vorsichtig setzt Peter Ekai ein Bein vor das andere, die beiden großen Säcke auf seinem Kopf wanken hin und her. Peter ist sechs Jahre alt. „Kakuma ist noch eine Stunde entfernt“, mahnt eine der Frauen, die mit Peter und gut 20 anderen Kindern vor Sonnenaufgang aufgebrochen ist. Dort, im sudanesischen Flüchtlingslager, will Peter die Holzkohle, die er selbst hergestellt hat, zu Geld machen.

„Für zwei Säcke bekomme ich 80 Schillinge, wenn die Käufer nicht zu sehr handeln“, hofft Peter, als das riesige Lager endlich in Sichtweite gerät – etwa einen Euro. Von der freien Grundschulausbildung, die Kenias Regierung vor fünf Jahren eingeführt hat, weiß Peter nichts. Hier oben in der trostlosen Turkana-Region sind die meisten Schulen wegen der Kriege zwischen Viehdieben ohnehin meist geschlossen. Das Land ist so trocken, dass sich kaum etwas anbauen lässt – Ziegen und Rinder, die von verfeindeten Nomadenstämmen durch die Halbwüste getrieben werden, sind der einzige Reichtum.

Hoffnung auf einen Schulbesuch hat Peter nicht. Er kennt nichts anderes als Arbeit. Schlimm ist es nur dann, sagt der Sechsjährige in brüchigem Swahili, wenn er seine Ware nicht los wird. „Dann muss ich die Säcke in der Mittagshitze zurücktragen, und zu essen gibt es an dem Tag auch nichts.“ Von den 80 Schillingen kauft Peter normalerweise ein wenig Maismehl, das für ihn und seine kranke Mutter zu Hause reicht.

200 Millionen Kinder weltweit, so gibt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in seiner jüngsten Studie zur Gewalt gegen Kinder an, geht es wie Peter: Sie malochen, anstatt zur Schule zu gehen oder zu spielen. Mehr als die Hälfte von ihnen, 126 Millionen, arbeiten unter besonders gefährlichen Bedingungen. Lange Arbeitstage sind die Regel, Prügel ebenso. Und die Zahl der arbeitenden Kinder in Kenia, so UNICEF-Regionaldirektor Per Engebaek, steigt seit Jahren an. „Die Armut ist groß und viele Eltern sterben an AIDS. Das heißt, dass die Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen, um zu überleben.“ Alleine in Kenia gibt es drei Millionen AIDS-Waisen, fast ein Zehntel der Bevölkerung.

Weg zur Prostitution ist kurz

In ländlichen Regionen wie in Turkana, wo Peter seine Holzkohle verkauft, werden vor allem Mädchen „in die Stadt geschickt“. Dort arbeiten sie als Haushaltshilfen für Verwandte, Bekannte oder andere, die den Eltern ein hungriges Kind abnehmen. „Manche Kinder sind gerade mal sieben, wenn sie auf einmal rund um die Uhr Sklavenarbeit im Haushalt leisten müssen“, weiß Engebaek. Bezahlt werden die Kinder fast nie, fast immer aber misshandelt oder sexuell missbraucht. „Ich habe Angst aufzuschreiben, was der Mann mit mir nachts macht“, vermerkt ein kenianisches Mädchen in einem Tagebuch, das UNICEF veröffentlicht hat. Besonders schlimm ist, dass die meisten Kinderarbeiter im Haushalt keine Schutzperson haben, an die sie sich wenden können.

Der Schritt von der Sklavenarbeit zur Prostitution ist kurz. Gut ein Viertel der Kinderprostituierten, so zeigen UNICEF-Zahlen aus Ostafrika, haben diesen Weg hinter sich. An Kenias Küste verkaufen 15 000 Mädchen und Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren ihren Körper zumindest gelegentlich an Touristen und Einheimische – das ist jedes dritte Kind. „Viele mittellose Eltern sehen die Prostitution ihrer Kinder als den einfachsten Weg, vom Touristengeschäft zu profitieren“, sagt Sarah Jones, die die Situation an der Küste untersucht hat. „Sie schicken ihre Kinder an den Strand, um Geld zu machen.“ Zehn Prozent der Kinderprostituierten, so haben Jones Umfragen ergeben, haben ihr „erstes Mal“ Jahre vor der Pubertät erlebt.

In Kenia sorgte Jones Studie Ende vergangenen Jahres für helle Aufregung. Doch selbst Kenias Vizepräsident Moody Awori musste kürzlich zugeben, dass sich seitdem nichts geändert hat: Die Polizei, so scheint es, verdient an dem schmutzigen Geschäft kräftig mit und tut nichts, um es zu unterbinden. „Die meisten Deutschen wollen junge Mädchen, keine alten Frauen“, erklärt die 17-jährige Lucy, die am Strand von Mombasa auf Freier wartet. Andere Jobs gebe es nicht, sagt sie, außerdem verdiene sie in einer guten Nacht mehr als der Durchschnittskenianer in einem Monat. Angst hat sie nur vor einem: AIDS. „Die meisten wollen, dass ich es ohne Kondom mit ihnen tue.“ Viele derjenigen, die in Kenia früh zur Kinderarbeit gezwungen werden, werden so noch als Kinder zu Grabe getragen.

(Copyright Erziehung und Wissenschaft 7/8 2007)