Dienstag, 23. Januar 2007

Weltsozialforum in Nairobi hat begonnen (TV)





Der Beitrag in den ARD Tagesthemen vom 23.1.2007 kann durch einen Klick auf den Titel abgerufen werden.

Samstag, 20. Januar 2007

Müllmänner der Globalisierung


Auf dem Schulhof von Pater Daniele haben die Kinder schon lange das erste Banner aufgehängt. "Festival der Straßenkinder: Eine andere Welt ist möglich!", steht darauf. In den Pausen reden die Schüler auf dem Hof aufgeregt über die nächsten Tage. Die meisten können es kaum noch erwarten, dass das Weltsozialforum endlich beginnt. "Wir haben seit Monaten alles vorbereitet, jetzt soll es endlich losgehen", drängelt der 12-jährige Paul. Und auch seine Mutter, die sich nach Schulschluss mit anderen Mitgliedern der St.-John-Gemeinde trifft, um den "Marathon der Slumbewohner" vorzubereiten, schaut ungeduldig drein.

"Hier in Korogocho leben die Ärmsten der Ärmsten, und beim Weltsozialforum haben wir die einmalige Chance, unserem Unmut vor großem Publikum Luft zu machen", freut sich der italienische Pater Daniele, der vor sechzehn Jahren in den wohl ärmsten Slum von Kenias Hauptstadt Nairobi gezogen ist. Der Katholik Daniele führt den Widerstand der Kirchengemeinden in Korogocho an. 4.000 Slumbewohner hat er als Teilnehmer für das Weltsozialforum angemeldet, so viele haben weder Attac noch irgendeine Gewerkschaft aufzubieten. Wenn der Geistliche durch die engen Pfade läuft, an denen die Hütten aus Lehm und Wellblech stehen, wirbt Daniele immer noch für die Reise zum Gipfeltreffen der Globalisierungskritiker, das nur gut zehn Kilometer entfernt stattfindet. "Die Bewohner von Korogocho sind wahre Opfer der Globalisierung, und deshalb dürfen sie bei einem solchen Treffen nicht fehlen."

Hundert Meter von Pater Danieles Schule und der St.-John-Kirche entfernt türmt sich Abfall aus 30 Jahren. Meterhoch ragt er in den Himmel, jeden Tag kommen anderthalb Tonnen hinzu. Auf der einzigen Müllkippe der Viermillionenstadt Nairobi gehen die Schwelbrände niemals aus. Tag und Nacht zieht dunkler Rauch über die Hütten der Bewohner Korogochos, voller krebserregender Gase wie Dioxine und Furane. Auf der Halde von Korogocho landen die Hinterlassenschaften derer, die von Globalisierungskritikern "globale Konsumentenklasse" genannt werden: Auch eine Minderheit von Kenianern lebt im Überfluss, ihr Müllaufkommen nimmt seit Jahren zu. Dazu kommen die Abfälle aus Touristenhotels und Flugzeugen, die hier billig entsorgt werden. Auch Krankenhausabfälle, abgelaufene Medikamente oder Altöl landen unbehandelt auf der Halde. Was mit ihrem Müll passiert, interessiert die Bewohner Nairobis wenig. Wer nicht unbedingt muss, verirrt sich nicht ins Labyrinth von Korogocho.

Die Anrainer der Halde, irgendetwas zwischen 700.000 und einer Million Menschen, gehören zur abgehängten Mehrheit der Bevölkerung. Zu ihnen zählt Moses Kiuna, der seit 25 Jahren in einem fensterlosen Holzverschlag nicht weit vom Nairobi-Fluss entfernt lebt - eine dunkelbraune, stinkende Kloake, die sich durch die Siedlung schlängelt. Kiuna spricht kaum, er keucht. "Meine Lungen sind krank, von dem giftigen Qualm, der von der Müllkippe überall hin zieht. Ich muss Medikamente nehmen, aber die sind teuer, und ich kann mir das nicht immer leisten." Die Ärzte machen Moses Kiuna keine Hoffnung. Solange er in Korogocho bleibt, sagen sie, ist seine Krankheit unheilbar. Eine tödliche Nebenwirkung des Lebens im Müll. "Jedes Jahr behandeln wir alleine in unserem Kirchen-Hospital 10.000 Patienten mit Atembeschwerden", bilanziert Pater Daniele. Solange die Müllkippe nicht verlegt wird, wird sich daran wohl kaum etwas ändern.

Die jungen "Aasfresser"

Doch die Politik stellt sich taub. Die Deponie ist offiziell geduldet, irgendwann einmal hat die Stadtverwaltung beschlossen, dass dort, wo die Weltbank eine Modellsiedlung finanzieren wollte, eine riesige Müllkippe entstehen darf. "Legal oder illegal, es gibt auch einen gerechtfertigten Kampf innerhalb der Legalität", sagt Pater Daniele. Der Abgeordnete des Wahlkreises zeigt sich nur selten hier. Man munkelt, er verdiene dick mit am Geschäft mit dem Müll.

"Wir kämpfen gegen eine große politische Übermacht an", beschreibt das Japheth Oluoch, der in St. John unterrichtet. Die Strukturen seien mafiös, viele Bewohner trauten sich nicht, den Mund aufzumachen. "Die Müllkippe wird von den Mungiki beherrscht, das ist Suaheli für ,Mob' ", erklärt Oluoch. "Die Gangmitglieder sind schwer bewaffnet - viele Leute hier werden erschossen, das ist nichts Ungewöhnliches." Doch trotz all dieser Einschüchterungen hat die Gemeinde von Opfern sich über die Jahre in eine schlagkräftige Bewegung von Aktivisten verwandelt. Auch wenn der wortgewaltige Pater Daniele weiß, dass im Kampf für eine müllfreie Zukunft Korogochos nicht alle auf seiner Seite stehen.

Längst ist in Korogocho eine Mikroökonomie entstanden, deren Grundlage die Müllhalde ist. Ganz unten in der Hierarchie stehen wandernde Müllsammler, "Aasfresser" werden sie hier genannt. Die meisten von ihnen sind Kinder wie der 14-jährige Joseph, der ein paar Stücke Gummi und Metall in einer schmutzigen Plastiktüte mit sich herumträgt. "Das reicht hoffentlich für ein Mittagessen", hofft der Junge, der gemeinsam mit seinem Freund Kevin jeden Tag aufs Neue das Risiko eingeht, von den Mungiki erwischt zu werden. Und das für eine von absehbar magere Ausbeute: Die einfach wieder zu verwendenden vier Fünftel des städtischen Mülls, so schätzen Danieles Leute, gelangen gar nicht hierher. In Korogocho landet nur der Bodensatz. "Oft ist ,Chombo' dabei, vergammelte Lebensmittel, die die Kinder essen", erzählt Lehrer Oluoch. Jede Woche muss mindestens einer mit Lebensmittelvergiftung behandelt werden.

Der Slum-Marathon

Faith Kamene hat immerhin schon einen Stammplatz auf dem Müll ergattert. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gräbt sich die sechsfache Mutter Zentimeter für Zentimeter in den Abfallberg und sortiert mit blanken Händen Glasscherben aus, die sie verkaufen kann. An einem guten Tag macht sie 30 Euro-Cent. Ihre Kinder sitzen nicht weit entfernt und spielen im Gerümpel: Schule kann Kamene sich nicht leisten. "Ich will nicht, dass die Müllkippe geschlossen wird", sagt sie. Von den Plänen der Bewegung um Pater Daniele hält sie wenig. "Wovon sollen wir dann leben, was sollen wir essen? Ich bin froh, dass wir die Müllhalde haben, sonst gibt es hier nichts."

Die katholische Gemeinde hat einen Recycling-Hof ins Leben gerufen, wo fairere Preise gezahlt werden und die Müllmänner und -frauen wenigstens grundlegende Arbeiterrechte genießen. Nach Pater Danieles Vorstellung soll das Projekt mitwandern, falls die Deponie eines Tages verlegt wird. Ein Platz ist dafür schon ausgewiesen, doch weil ein lokaler Politiker das Land anderweitig verschachert hat, muss vielleicht ein neuer Ort gefunden werden. Der Geistliche bekommt eine ernste Stirn. "Die Müllarbeiter befürchten, dass sie dort nicht mehr arbeiten dürfen und dass diejenigen, die in der Nähe des neuen Platzes leben, das ganze Geld alleine machen wollen" sagt Pater Daniele. Wie im globalen Kampf gegen die Folgen der Globalisierung, gibt es auch in Korogocho keine einfachen Lösungen, die es allen recht machen.

Auch deshalb will Daniele, dass möglichst viele Slumbewohner zum Weltsozialforum gehen. "Dort können sich unsere Leute mit anderen austauschen, die ähnliche Probleme haben und vielleicht neue Impulse für unseren weiteren Weg geben können." Dass der tägliche Kampf der afrikanischen Slumbewohner genügend Aufmerksamkeit bekommt, dafür hat Daniele gesorgt. Der weltschnellste kenianische Marathonläufer Paul Tergat soll den "Slum-Marathon" anführen, der durch einige der größten Slums von Nairobi führt. Tausende Teilnehmer des Weltsozialforums, so die Hoffnung, sollen für ein paar Stunden ihre Transparente ablegen und Turnschuhe anziehen, um die Lebensrealität von weit mehr als der Hälfte von Nairobis Bewohnern zu sehen.

Gut 250 Slums und informelle Siedlungen gibt es in Nairobi, Tendenz steigend. Für den Vorkämpfer Daniele gibt es noch genug zu tun. Auf sein T-Shirt hat er bereits seinen privaten Weltsozialforums-Slogan gemalt: "Eine andere Welt ist möglich - selbst für Slum-Bewohner."

(Copyright die tageszeitung, 20.1.2007)

Donnerstag, 18. Januar 2007

Amas Schicksal


Wenn Manu Herbstein von Ama erzählt, dann klingt es wie die Geschichte einer lange verschollenen Verwandten. “Ama war erst 15, als sie von Sklavenhändlern aus ihrer Hütte im trockenen Norden Ghanas verschleppt wurde”, erzählt der 71-jährige. Eingepfercht in eine Sklavenkarawane, entfernt sich Ama immer weiter von ihrer Heimat und den Menschen, die sie liebt. “Sie schließt neue Freundschaften, auch mit ihren Entführern, aber ihr Schicksal ist besiegelt: Von Elmina aus wird sie nach Brasilien verschifft, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten.” Das war vor 250 Jahren.

Zehn Jahre hat Herbstein gebraucht, um die Geschichte von Ama und hunderttausenden anderen Sklaven im Ghana des 18. Jahrhunderts auszugraben. “In Ghana ist dieser Teil der Geschichte ein weißer Fleck.” Monate hat Herbstein im unwirtlichen Norden Ghanas verbracht, wo der Sahel beginnt und starker Wind den trockenen Sand durch die Luft wirbelt. Nördlich von Kumasi, der ehemaligen Hauptstadt des Ashanti-Reiches, leben nur noch wenige Nomadenstämme. Moscheen aus Lehm sind die größten Gebäude.

“Es gibt dort oben eine bis heute lebendige erzählerische Tradition”, weiß Herbstein. Kaum etwas wird aufgeschrieben, Geschichte wird von Mund zu Mund weitergegeben. So erfuhr der Autor nach und nach die Details des Sklavenhandels, der ganze Landstriche entvölkerte. “Der Aufstieg der Ashanti begann mit Gold und Elfenbein, aber Sklaven wurden schnell zur bedeutendsten Ressource des wachsenden Königreichs.” Holländer, Briten und Dänen brauchten ständig neue Arbeiter für ihre Kolonien. Die Ashanti befriedigten den Bedarf und wurden dafür mit modernen Waffen ausgerüstet.

Etablierte Königreiche wie das der Dagbon im Norden Ghanas hatten der Armee des Ashanti-Kaisers nichts adäquates entgegen zu setzen. Sie mussten sich verpflichten, hunderte ihrer Leute in die Sklaverei zu schicken – Leute wie Ama, die von ihrem eigenen Volk in den Untergang geschickt wird. Herbsteins Buch beschreibt auf 400 Seiten minutiös das Martyrium, durch das die Sklaven vor ihrer Ankunft in der neuen Welt gehen mussten: Misshandlung, Vergewaltigung und Hunger sind nur einige der Demütigungen, die Ama erleiden muss.

Unter den tausenden US-Amerikanern afrikanischer Herkunft, die jedes Jahr das Sklavenfort in Elmina an Ghanas Küste besuchen, hat Herbstein dankbare Leser gefunden. Selbst auf Senegals Île de Gorée verkauft sich “Ama – Eine Geschichte aus dem transatlantischen Sklavenhandel” gut. Für seinen Erstling hat Herbstein sogar den “Commonwealth Writers Prize” erhalten. “Und das, obwohl ich für die Veröffentlichung des Buchs genauso hart arbeiten musste wie für das Schreiben selbst”, lächelt Herbstein.

Viele Verleger lehnten das Buch ab, weil sie nicht glauben wollten, dass gerade Herbstein die Geschichte vom Sklavenhandel aufschreiben könnte. “Ich bin Südafrikaner, weißer Südafrikaner, und das haben mir die Verleger immer wieder vorgehalten.” Nur durch einen Zufall fand Herbstein seinen Verlag: An einem Stand für gebrauchte Bücher an einer von Accras vielbefahrenen Hauptstraßen fand er einen zehn Jahre alten Führer: ‘Wie veröffentliche ich mein Buch’.

“Ich habe über das Internet die aktuelle Adresse des Autors herausgefunden und ihm einen Brief geschrieben.” Das Buch gefiel dem Autor, der inzwischen Literaturagent war – er vermittelte Herbstein seinen Verleger. “Weil wir uns nie gesehen hatten, kam die Frage meiner Hautfarbe nie auf.” Manchmal, sagt Herbstein, bekommt er Leserpost, in der nach seiner Herkunft gefragt wird. “Die beantworte ich nicht, ich bin Afrikaner, punkt.”

Die Entschiedenheit hat einen Grund. Herbstein hat seinen eigenen Kampf gegen die Versklavung hinter sich. Der Sohn eines Händlers studierte in den 50er Jahren in Kapstadt Architektur und begann kurz darauf, quer durch Afrika zu reisen. Nach zwei Jahren im Ausland kehrte er nach Südafrika zurück, als in Ghana Kwame Nkrumah die Einheit aller Afrikaner beschwor. “Mir war klar, dass sich Südafrika ändern muss und ich habe mich dem Anti-Apartheids-Kampf des damals illegalen Afrikanischen Nationalkongresses angeschlossen.”

Von Indien und Sambia aus arbeitete Herbstein daran, das System der Rassentrennung in Südafrika weltweit zu diskreditieren. In den 70-er Jahren musste er aufhören – der ANC trennte sich von seinen weißen Mitgliedern,viele wurden erschossen. Herbstein, enttäuscht, zog nach Ghana – erst 1992, nach der Freilassung Nelson Mandelas, kehrte er nach Südafrika zurück. “Ich finde, dass ich mir das Recht verdient habe, Amas Geschichte aufzuschreiben”, glaubt Herbstein.

(Copyright epd, 18.1.2007)

Dienstag, 9. Januar 2007

In Wildwest-Afrika


Der aufgeschüttete Sandstrand am Nil ist bei Jubas Entwicklungshelfern der letzte Schrei. Auf den Liegestühlen im Civicon Camp, das von einem Österreicher betrieben wird, treffen sich die zahlreichen Mitarbeiter von UN und Hilfsorganisationen in der südsudanesischen Hauptstadt zum Sonnenuntergang auf ein kühles Bier, die Flasche für 5 Euro. Es wird getrunken, gegrillt und getanzt, bis um 23 Uhr die nächtliche Ausgangssperre beginnt. Denn draußen vor der schwerbewachten Tür herrscht zwei Jahre nach dem Friedensschluss zwischen Sudans Regierung und der südsudanesischen SPLA (Sudanesische Volksbefreiungsarmee) bittere Armut und zunehmend Gewalt. Viele sagen, die Hauptstadt des Südsudan sei inzwischen unsicherer als noch im Krieg.

Die 16-jährige Lucy steht mit einigen Freundinnen an der holprigen Sandpiste und schaut erwartungsvoll den weißen Landcruisern entgegen, die vom Nilstrand nach Hause fahren. Wenn die Autos nahe genug sind, hebt sie ihren giftgrünen Wickelrock bis zum Oberschenkel. "Manchmal hält ein Auto an, und einer der Fahrer nimmt mich mit zu sich ins Bett", erzählt Lucy freimütig. Ein paar hundert Dinar bekommt sie für eine Nacht, knapp 1 Euro.

Ihre Freier, sagt Lucy, arbeiten für die UN oder internationale Hilfswerke und kommen aus verschiedenen Ländern. "Auch viele meiner Freundinnen verkaufen sich an die Ausländer. Anders können wir nicht überleben." Die Berichte über die Vergewaltigungen hat sie gehört, von gerade mal 12-jährigen Kindern, die nach dem Missbrauch aus den Dienstwagen geworfen wurden wie ein Sack Kartoffeln. "Aber mir ist so was nie passiert, und ich habe auch keine Angst." Sie hält inne. "Und selbst wenn, ich hätte auch keine Wahl."

Lucy hat keine Eltern mehr. Eine Schule hat sie nie besucht. Sie lebt auf der Straße, wie viele andere, die im Bürgerkrieg zu Waisen geworden sind. Juba ist ein Brennglas der Zerstörung, die der jahrzehntelange Krieg in Südsudan angerichtet hat: Hunderttausende Flüchtlinge haben sich in den vergangenen zwei Jahren rund um die Stadt angesiedelt, die Bevölkerung ist von 300.000 auf mehr als 800.000 explodiert.

Staatliche Hilfe für Kriegswaisen oder gar Kinderheime gibt es nicht im Südsudan, weiß Paul Obura vom britischen Kinderhilfswerk Save the Children. "Wir versuchen, innerhalb der Dörfer und Stadtviertel Patenschaften oder anderen Schutz für die Kinder zu organisieren", erklärt der 36-jährige Kenianer. Mit mäßigem Erfolg. "Die Armut ist riesig hier, eine solche Masse an Hilfsbedürftigen habe ich noch nie gesehen." Viele Straßenkinder würden schon im frühen Alter Opfer von Prostitution oder Missbrauch. Dass die Täter oft diejenigen sind, die eigentlich helfen sollen, hat Obura selbst erlebt. "Wir mussten hier im Sudan schon mehrere Leute rauswerfen, die sich an Kindern vergangen haben."

Die UN, die wegen der Missbrauchsvorwürfe besonders am Pranger stehen, haben seit ihrer Stationierung vor zwei Jahren einen einzigen Soldaten nach Hause geschickt. "Der ist nachts aus dem Camp geflohen und hat sich mit ein paar Keksen und Lebensmitteln Sex von einem Mädchen erkauft", erklärt der oberste Befehlshaber der UN-Truppe in Juba, Oberst Elahi Rahman aus Bangladesch. Seit den skandalösen Vergewaltigungen durch UN-Soldaten im Kongo gilt auch für die Blauhelme im Sudan die Auflage: Kein Sex mit Einheimischen. Die Baracken dürfen nur nach vorheriger Abmeldung verlassen werden. Und ohne Auto geht kaum etwas: Vom Stützpunkt an Jubas Flughafen bis zur ersten Disco, der Kololo-Bar, ist es eine zehnminütige Fahrt.

Kekse gegen Sex

Seit einigen Wochen ist die Bar ohnehin geschlossen. "Aber ausschließen kann man natürlich trotzdem nichts, bei der Anzahl der UN-Angestellten hier", sagt der Oberst. Nicht alle der 10.000 UN-Soldaten in Südsudan sind kaserniert, manch einer lebt in der Stadt. Kein Mensch kontrolliert, was sie am Abend treiben. Das Gleiche gilt für die Polizisten unter UN-Mandat und die Mitarbeiter der UN-Hilfswerke.

Zwei Jahre nach dem formalen Ende des Bürgerkriegs hat Juba das Flair von Afrika-Wildwest. Wenige Tage genügen, um dem Besucher ein Gefühl von genereller Gesetzlosigkeit zu geben. Wer sich ein Auto leisten kann, malt sich selbst ein imposantes Nummernschild und rast ohne Rücksicht auf Verluste über die holprigen Schlaglochpisten. Polizisten, die Gesetzesverstöße ahnden könnten, werden erst noch ausgebildet, unter Mithilfe der deutschen Polizei. Die ersten vierzig haben gerade ihre Fahrprüfung abgelegt, doch Streifenwagen oder Funkgeräte haben sie nicht. Viele Polizisten sind in der Grundausbildung auf Piktogramme angewiesen, weil sie weder lesen noch schreiben können. Kein Wunder, dass bislang kein einziger Fall von Kindesmissbrauch zur Anzeige gebracht wurde.

Die wahren Herren über Recht und Unrecht im "neuen Sudan" sind ohnehin andere. "Wir haben kürzlich einen SPLA-Soldaten wegen einer Vergewaltigung eingebuchtet", berichtet ein deutscher Polizeiausbilder. "Ein paar Stunden später kamen zehn seiner Kameraden mit Kalaschnikows und haben den Mann wieder mitgenommen." Beschwerden oder Einsprüche vor Gericht verlaufen ergebnislos im Sand. Die ehemalige Rebellenarmee, die jetzt Südsudan als autonome Region regiert, kann sich alles erlauben in Juba.

Das mussten selbst die Armeeführer lernen, die inzwischen als Regierungspolitiker in die zahlreichen klimatisierten Flachbauten am Rande Jubas eingezogen sind. Eine Woche vor Weihnachten tranken sich Soldaten in der Kololo-Bar Mut an, bevor sie hackedicht und schwerbewaffnet durch die Straßen marschierten, in die Gegend schossen und die Auszahlung ihres Soldes forderten. Als ihr Kommandeur sie per Radio aufforderte, in die Kasernen zurückzukehren, stürmte die Truppe kurzerhand den Regierungssender und forderte die verdutzte Radiomannschaft auf, den Sendebetrieb einzustellen. "Aber die Generatoren für den Sender stehen bei den UN, und deshalb standen die Soldaten kurze Zeit später vor unserer Tür", erinnert sich der deutsche Oberst Jürgen Bergmann, der nach Rahman ranghöchste Mann im Unmis-Bataillon.

Erst als Südsudans Präsident Salva Kiir persönlich mit den Soldaten verhandelte, beruhigte sich die Lage wieder. Zwei Zivilisten waren da bereits gestorben. Besonders pikant: Die Soldaten gehörten zu dem Teil der Truppen, der von Sudans Regierung in Khartum bezahlt werden muss. Doch das hatte die Zentralregierung, die mit aller Macht die Unabhängigkeit des ölreichen Südens verhindern will, irgendwie vergessen.

Armee und Staat sind eins

Bergmann, seit sieben Monaten in Juba, befürchtet, dass der auf sechs Jahre angelegte Friedensprozess an den zunehmenden Spannungen im Südsudan selber scheitern könnte. "Die ethnischen Dinka haben ein klares Übergewicht in der Führung von Armee und Staat und vergrätzen die anderen Volksgruppen mit einer kaum glaublichen Überheblichkeit." Armee und Staat sind im Südsudan ohnehin bis heute eins, das Führungsmodell der Autonomieregierung erinnert in seinen Zügen an eine Militärdiktatur. "Aber die SPLA ist immer noch eine Rebellentruppe, keine richtige Armee", warnt Bergmann.

Weil es keine funktionierende Befehlskette gibt, mussten bei Gefechten mit von Khartum unterstützten Milizen in der Ölstadt Malakal hunderte Menschen sterben, bevor die Generäle in Juba die Kämpfe beenden konnten. "Die Befehlshaber in Malakal haben ihre Satellitentelefone nicht abgenommen - schließlich mussten wir in einem UN-Flugzeug nach Malakal, damit der Befehl persönlich vor Ort gegeben werden konnte", sagt der Deutsche. In einer unterbezahlten Armee, die laut Bergmann zudem unter Disziplinlosigkeit und hohem Alkoholkonsum leidet, kann auf diese Weise ein Bürgerkrieg beginnen. Vor allem deshalb, weil die Soldaten der verschiedenen bewaffneten Gruppen im Südsudan nie gefragt wurden, ob sie sich der nördlichen oder der südlichen Armee anschließen wollen.

Bei der heutigen offiziellen Feier in Juba zum zweijährigen Jubiläum der Befreiung werden all diese Probleme kein Thema sein. Stattdessen präsentiert die Regierung einen neuen Meilenstein auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Der im Süden ungeliebte Dinar, der vom Khartumer Regime nach der Machtergreifung von Präsident Omar al-Baschir 1989 eingeführt wurde, wird ab heute durch eine neue Währung ersetzt, das sudanesische Pfund.

"Die Scheine sind von Symbolen der Einigkeit geziert: Kamele, Kühe, der Nil", freut sich der Chef der südsudanesischen Zentralbank, Elijah Aleng. Angeblich ist das neue Geld bereits gedruckt, nur gesehen hat es noch niemand. Eine großzügige Übergangsfrist verspricht Aleng deshalb schon einmal vorsorglich. Theoretisch soll das Pfund den Dinar auch im islamischen Norden ablösen, in Juba soll die Einheitswährung auch die inoffiziellen Zahlungsmittel US-Dollar, kenianische und ugandische Schilling ersetzen. Doch für die meisten Bewohner der Stadt dürfte es schlicht egal sein, welche Währung es ist, die sie nicht besitzen.

(Copyright die tageszeitung, 9.1.2007)