Freitag, 31. Oktober 2008

Wo das Geld vom Himmel fällt


Wenige Tage vor Monatsende ist im Shop von Steven Eigowab wie immer wenig los. Die Regale sind leer, das kleine Lager auch. Doch das stört niemanden, denn durch die Tür, wo die trockene Mittagshitze sich mit der relativen Kühle des Ladens vermischt, ist seit dem Morgen kein Kunde gekommen. Eigowab zuckt mit den Schultern. "Kurz vor Monatsende ist es immer dasselbe: Alle warten auf neues Geld." Damit bezahlen die Kunden das, was sie im Lauf der vergangenen Wochen bei Eigowab haben anschreiben lassen. Mit dem Geld kauft Eigowab neue Waren, und der Kreislauf beginnt von vorne. Sorgen um die Kreditwürdigkeit seiner Kunden muss der Kaufmann sich seit Anfang Januar nicht mehr machen. Seitdem nämlich fließt das Geld in Otjivero garantiert.

In der 1.200-Seelen-Gemeinde gut 100 Kilometer östlich von Namibias Hauptstadt Windhuk erhält jeder Bürger monatlich 100 Namibia-Dollar, umgerechnet sind das acht Euro. Reich ist man damit nicht, aber leben kann man davon, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Tun muss man dafür nichts, es gibt keine Bedingungen und kein Kleingedrucktes. Wer in Otjivero lebt, bekommt das Geld. So einfach ist das.

Eigowab konnte es selbst kaum glauben, als vor mehr als einem Jahr der angesehene Bischof Zephania Kameeta im schäbigen Otjivero auftauchte und den Geldsegen versprach. "Ich habe das Misstrauen gespürt", sagt Kameeta. Der auf dem Dorfplatz versammelten Menschenmenge rief der 62-Jährige deshalb irgendwann zu: "Ich bin nicht den langen Weg aus Windhuk hierher gekommen, um zu lügen, dafür bin ich zu alt." Die Leute staunten, und Kameeta, eine Art namibischer Desmond Tutu, grinst noch heute über seine Spitzbüberei. Richtig ernst genommen, sagt Kameeta, haben die meisten ihn aber wohl erst, als Monate später die Zählung der Bürger begann. "Das Ganze war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, selbst die Helfer haben wir erst unmittelbar vor der Abfahrt aus Windhuk informiert", erinnert sich Dirk Haarmann, der gemeinsam mit seiner Frau Claudia das Projekt zum Grundeinkommen in Otjivero im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche Namibias begleitet.

Mit der Geheimnistuerei sollte verhindert werden, dass Verwandte und Bekannte in Otjivero einströmen, um von dem weltweit einzigartigen Modellprojekt zu profitieren. Denn nur wer am Stichtag registriert wurde und jünger ist als 60 Jahre, bekommt das Geld: Genau 930 Menschen. Rentner, die bereits eine staatliche Grundversorgung erhalten, bleiben außen vor. Ansonsten kriegt jeder das Grundeinkommen, vom Säugling bis zum Familienvater, vom Bettler bis zum Reichen. "Das Grundeinkommen befreit die Menschen vom täglichen Existenzkampf", erklärt Haarmann, der aus dem rheinischen Mettmann stammt und seit fünf Jahren in Windhuk lebt. "Hunger macht ökonomisch keinen Sinn", glaubt der Theologe, der auch Soziologie studiert hat. "Nur wer nicht hungert, wird wirtschaftlich aktiv und kann sich selbst aus der Armut befreien." Damit stützt er den Bericht einer staatlichen Kommission, die der namibischen Regierung schon vor sechs Jahren die Einführung des Grundeinkommens für jeden Bürger zur Lösung der sozialen Schieflage im Land empfohlen hat. "Aber die Regierung hat gezögert und gezögert, bis Kirchen, Gewerkschaften und Verbände gesagt haben: jetzt wollen wir einfach mal einen Feldversuch wagen." Bis Ende 2009 läuft das Modellprojekt in Otjivero.

Finanziell, so hat Haarmann ausgerechnet, wäre die flächendeckende Einführung des Grundeinkommens kein Problem. Das ehemalige Deutsch-Südwestafrika hat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas. Hier liegen die Diamanten förmlich in der Wüste herum, nur dass die Wüste von hohen Zäunen umgeben ist, Areale, die Sperrgebiete heißen. Deshalb ist die Schere zwischen Arm und Reich kaum irgendwo größer als in Namibia: Zwei Drittel der Namibier leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Drittel der unter Fünfjährigen ist mangelernährt. Maximal vier Prozent des Bruttosozialprodukts wären nötig, so glaubt Haarmann, um die Lage grundlegend zu ändern. Finanziert werden soll das Grundeinkommen über Steuern, die Reiche stärker belasten, und über Einsparungen: Weil jeder das Gleiche bekommt, sind keine Überprüfungen nötig, kein bürokratischer Überbau. Das macht das Grundeinkommen für den Staat attraktiv.

Einer der Profiteure in Otjivero ist John Thomason, der in der Morgensonne seine einjährige Tochter Hildegard auf dem Arm hält. "Ich kann jetzt einen alten Pick-up abbezahlen." Sein Hof ist übersät mit Ersatzteilen, mit Autos kennt Thomason sich aus. Doch das Kapital, mit seinem Wissen etwas anzufangen, fehlte ihm bisher. "Wenn Leute in die Stadt wollen, ins 50 Kilometer entfernte Gobabis, dann lade ich sie auf die Ladefläche und fahre sie dorthin." Zehn Namibia-Dollar verlangt er für die Hin- und Rückfahrt, bis zu zwölf Personen bekommt Thomason locker zusammen: wegen des Grundeinkommens gibt es auf einmal zahlende Kunden. In der ersten Woche nach der Auszahlung ist Thomason meist täglich unterwegs, den Rest der Zeit unternimmt er gelegentlich Botenfahrten nach Windhuk. Wenn er seine Kosten abrechnet, bleibt genug zum Leben und für das Schulgeld für seine drei anderen Kinder. "Mir geht es besser als früher", sagt der 43-Jährige. Da hat er wie die meisten in Otjivero gar keine reguläre Arbeit gehabt. Seine Frau hat auf den schmalen Streifen staubiger Erde, der das Dorf von den hohen Zäunen der benachbarten Farmen trennt, versucht, ein bisschen Gemüse anzubauen. Zu denen, die gewildert haben, will Thomason selbst nicht gehören, obwohl er Verständnis für die in der Nachbarschaft verschrienen Viehdiebe hat. "Die haben ja nicht wirklich gewildert, nur ab und zu eine Antilope oder so etwas ins Dorf gebracht."

So sehr als Dorf von Ganoven und Taugenichtsen war Otjivero verschrien, dass die Leute Haarmann vor Start des Projekts gefragt haben, warum er gerade diesen Ort für ein Modellprojekt ausgewählt hat. "Ein Pfarrer hat mich gewarnt: Dieses Dorf ist ein Krebsgeschwür, geht da nicht hin", erinnert sich Haarmann. Inzwischen, berichten manche Dörfler stolz, seien die Farmer von nebenan ab und an gar bereit, Leute aus Otjivero als Erntehelfer oder Handlanger einzustellen. "Das wäre früher nicht möglich gewesen", frohlockt Steven Eigowab. Eigowab ist Chef des 18-köpfigen Komitees, das die Dorfbewohner kurz nach der Zählung gewählt haben. Die Idee hatten sie selbst, "um das Projekt zum Erfolg zu machen", sagt Eigowab. Das Komitee half mit, bei der ersten Geldausgabe Ordnung zu schaffen: Sonst wären viele der Wartenden wohl zertrampelt worden bei dem Ansturm auf die Kasse. Inzwischen weiß jeder, dass genug Geld für alle da ist. Das zweite Problem ist delikater: die richtige Verwendung. "Wir wollen nicht, dass alle ihr Geld gleich am Ausgabetag versaufen." Genau das nämlich werfen die Kritiker dem Projekt vor: den Untätigen werde Geld in den Rachen geworfen. Anstatt Arbeit zu belohnen, werde Untätigkeit finanziert. Und tatsächlich feierten die 13 Kaschemmen, Shebeens heißen sie hier, am Abend des ersten Ausgabetags das Geschäft ihres Lebens. Wegen Alkoholismus und "ungebührlichen Verhaltens" nahm die Polizei ein paar Bewohner mit in die Ausnüchterungszelle. Andere trugen ein paar Tage später stolz ein neues Handy oder anderes Konsumgut zur Schau. "Aber spätestens wenn einer den Nachbarn um einen Kredit angehauen hat, kam die Antwort: wieso, du hast doch auch deine 100 Dollar bekommen", so Eigowab. Am Zahltag Nummer zwo sei es entsprechend ziviler zugegangen. Das lag vielleicht auch daran, dass Eigowab und sein Komitee nicht müde wurden, an den Tagen davor warnend von Haus zu Haus zu ziehen: verschwendet nicht euer Geld.

Der Zwischenbericht, den Bischof Kameeta unlängst der namibischen Regierung vorlegte, zieht für die ersten sechs Monate eine fast enthusiastische Bilanz. Der Prozentsatz mangelernährter Kinder ist demnach von 42 auf 17 Prozent gefallen. Die Zahl der Eltern, die Schulgeld bezahlen, hat sich verdoppelt: Statt bisher 40 brechen nur noch fünf Prozent der Kinder die Schule ab. Auch Gesundheit steht ganz oben auf der Prioritätenliste: Die Zahl derjenigen, die vier Dollar für einen Arztbesuch auf den Tisch legten, hat sich seit Januar verfünffacht. Das für die Nachhaltigkeit des Projekts vielleicht wichtigste Ergebnis: Mit ihrer Arbeit ist es den Bewohnern gelungen, ein Gesamteinkommen zu erzielen, das über der Summe des ausgezahlten Grundeinkommens liegt. Die Kriminalität in und um Otjivero ging unterdessen um 20 Prozent zurück.

Mit solchen Argumenten, hofft Haarmann, wird man die Regierung von einer Ausweitung des Projekts überzeugen können - trotz kraftvoller Gegenspieler, allen voran der Internationale Währungsfonds. "Die haben der Regierung die Kosten für das Grundeinkommen künstlich hochgerechnet und das mir gegenüber so begründet: wir sind halt gegen das Prinzip", ärgert sich Haarmann bis heute. Im einst so gefürchteten Otjivero mehren sich hingegen andere Sorgen. "Uns geht es jetzt gut", flüstert Joseph Kanep, der vom Grundeinkommen gerade sein Haus repariert. "Aber wir müssen uns schützen vor Schmugglern, Drogendealern und Banditen, die uns den Reichtum nehmen wollen." Für den Aufschwung in Otjivero gibt es vielleicht keinen besseren Beleg als die neue Angst, die Kanep mit vielen seiner Freunde teilt.

(Copyright die tageszeitung, 31.10.08)

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Panik in Goma


Erst sah in Goma alles aus wie an einem ganz normalen Tag. Zwar wurde nur zwanzig Kilometer von der Innenstadt entfernt gekämpft - Truppen unter dem Mandat der Vereinten Nationen versuchten gemeinsam mit der kongolesischen Armee die Milizen des berüchtigten Rebellengenerals Laurent Nkunda zurückzuschlagen. Doch die Menschen in der Provinzhauptstadt Goma sind an Krisen gewöhnt. Also gingen die Kinder zur Schule, Läden waren geöffnet, die Märkte gut besucht.

Aber dann brach Chaos aus. "Das Gerücht ging um, dass die Front gegen Nkunda zusammengebrochen sei, und plötzlich begannen alle zu laufen wie die Hasen", berichtet Georg Dörken von der Deutschen Welthungerhilfe, der seit 15 Jahren in der Region tätig ist.

Chaotische Szenen spielen sich ab, als Soldaten mit vorgehaltener Waffe Lastwagen beschlagnahmen, um vor den Rebellen zu fliehen, andere in Panik mit ihren Panzern Autos überrollen. Während die Uno alle internationalen Hilfsorganisationen auffordert, die Stadt sofort zu verlassen, bleiben die Bewohner ohne Schutz durch die kongolesische Armee zurück. Am Abend verbreitet sich das Gerücht, die Regierung in Kinshasa wolle die Stadt kampflos an Nkunda übergeben.

Bis dahin hatte die Ankündigung des Rebellensprechers Bertrand Bisimwa, Goma erobern zu wollen, noch voreilig geklungen. Denn der Vormarsch der Rebellen stockte, nachdem UN-Blauhelme am Dienstagnachmittag mit einer Offensive bei Kibumba, gut 20 Kilometer vor Goma, begonnen hatten. Alan Doss, Leiter der UN-Mission im Kongo (Monuc), warnte da allerdings schon: "Wir bleiben, wir werden die Städte verteidigen, aber unsere Truppen sind am Ende ihrer Kräfte angelangt und wir brauchen dringend Verstärkung." Auf die Aufstockung der mit mehr als 17 000 Soldaten weltweit größten UN-Schutztruppe konnte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aber bisher nicht einigen.

Dabei warnen Hilfsorganisationen angesichts der enormen Zahl von Flüchtlingen vor einer Katastrophe. Viele hatten sich in den vergangenen Tagen zu Fuß aus den umkämpften Gebieten aufgemacht, um in Goma Sicherheit zu finden. "In unseren Feldlazaretten arbeiten die Ärzte rund um die Uhr", sagt Clio van Cauter, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Goma. "Wir können nicht sagen, wie viele Flüchtlinge es genau sind, aber es sind sehr viele." Auf mehr als 800 000 hat die Uno die Zahl der Vertriebenen im Ost-Kongo Anfang des Jahres geschätzt. Dass die Zahl jetzt über die Millionengrenze steigt, ist wahrscheinlich.

Viele von ihnen sind schon länger vor den brandschatzenden und marodierenden Milizen auf der Flucht. Denn Nkunda, ein Tutsi mit kongolesischem Pass, hält die Region seit Jahren in Atem. 2004 marschierten er und seine Männer in Bukavu ein, der größten Stadt am südlichen Ende des Kivu-Sees. Unter den Augen von untätigen Blauhelm-Soldaten plünderten, vergewaltigten und mordeten Nkundas Leute, um sich dann zurückzuziehen. Die Blauhelme erklärten später, ihr Mandat habe kein Eingreifen zugelassen. Seither führt der "Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes", wie sich die Rebellentruppe schwülstig nennt, einen Guerillakrieg mit der Regierungsarmee, die selbst aus früheren Rebellen zusammengestückelt ist. Seine Hochburgen hat Nkunda in besonders unzugänglichen Gegenden der weitläufigen Region, in den Bergen nordwestlich des Virunga-Nationalparks und entlang der kongolesisch-ugandischen Grenze.

Was genau Laurent Nkunda mit seinem Kampf im Osten Kongos erreichen will, ist umstritten. Er gehört zu den Generälen, die im Kongokrieg für die einst mächtige "Sammlungsbewegung für ein demokratisches Kongo" (RCD Goma) gekämpft haben. Zwischen 1998 und 2003 kontrollierte seine Armee im Auftrag Ruandas die reichen Minen im Ostkongo. Als der Krieg zu Ende war, an dem zeitweise acht afrikanische Armeen beteiligt waren, sammelten sich um Nkunda diejenigen, die nicht - wie in den Friedensverträgen vorgesehen - in die kongolesische Armee integriert werden wollen. Und diejenigen, die wegen ihrer Kriegsverbrechen Angst vor Prozessen hatten.

Doch das ist nicht alles. Kaum jemand zweifelt daran, dass hinter der größten Offensive Nkundas seit der Einnahme von Bukavu Kongos winziger Nachbar zum Osten steckt: Ruanda. Am Mittwoch mehrten sich Augenzeugenberichte, nach denen ruandische Truppen selbst an den Kämpfen beteiligt waren. Demnach sollen ruandische Panzer Stellungen der kongolesischen Armee im Norden von Goma beschossen haben.

Nkunda selbst begründet seine Feldzüge damit, er wolle die Tutsi im Ost-Kongo schützen und die für den Völkermord in Ruanda verantwortlichen Hutu-Extremisten dorthin zurücktreiben, wo ihnen der Prozess gemacht werden soll. Tatsächlich wären so nah an der Grenze verschanzte Hutu-Milizen für den ruandischen Präsidenten Paul Kagame, dessen Tutsi-Armee 1994 die militanten Hutu erst nach dem Völkermord an mehr als 800 000 Tutsi und moderaten Hutu vertreiben konnte, ein Sicherheitsrisiko.

Die wahren Motive für Ruandas mutmaßliche Unterstützung könnten jedoch andere sein. "So lange im Ost-Kongo gekämpft wird, kann Ruanda ungestört die Minen in der Region ausbeuten und auf dem Schwarzmarkt Millionen damit machen", sagt ein Mitarbeiter einer großen deutschen Hilfsagentur in Kinshasa. Im Osten Kongos ballen sich Vorkommen wertvoller Mineralien wie Gold, Kobalt und Kupfer. Und noch ein in Ruanda knappes Gut gibt es: Land. "Gerüchte besagen, dass Ruanda die Kivu-Provinzen annektieren könnte, sobald Nkunda sie unter Kontrolle gebracht hat", sagt Georg Dörken von der Welthungerhilfe. "Beweise hat niemand, aber in Ruanda gibt es eine Bevölkerungsexplosion, Land ist jetzt schon äußerst knapp."

Die Menschen in Rutshuru, der Stadt, die den Rebellen schon am Mittwochmorgen in die Hände fiel, haben ihre Heimat lange nicht mehr gesehen. Wer hier ist, hat seinen persönlichen Alptraum schon hinter sich. In den Flüchtlingslagern nahe der Grenze zu Uganda leben Zehntausende, die in Panik vor den Milizen geflohen sind. Viele wurden von Nachbarn oder anderen Flüchtlingsgruppen gewarnt, als sie auf den Feldern arbeiteten, oder sind bei Nacht und Nebel aus dem Haus gerannt wie Mary, die vor einem Jahr mit ihrem kleinen Sohn im Kusasi Camp, einem der Lager von Rutshuru, ankam. "Wir haben nichts retten können, meinen Bruder und meinen Mann habe ich auf der Flucht verloren", sagt die junge Frau. Ihr Sohn wimmert im Fieber der Malaria, gegen die Mary ihn in den Behelfshütten aus Stroh und Plastikplanen nicht schützen kann. Mary hatte Glück: Vergewaltigung, Misshandlungen oder Folter, von denen die meisten Flüchtlinge berichten, blieben ihr erspart. Doch seit die Nkundas Truppen die Kontrolle in Rutshuru übernommen haben, sind die Vertriebenen wieder heimatlos. Während hinter ihnen humanitäre Einrichtungen geplündert und in Brand gesteckt werden, versuchen sie, jenseits der Grenze in Uganda Schutz zu suchen.

Bei den Geschundenen des Ost-Kongo, die in der einst reichsten Provinz des Kongo leben, macht sich nach mehr als zehn Jahren Krieg Hoffnungslosigkeit breit. Erst vor einigen Wochen legten einige lokale Abgeordnete ihr Mandat nieder und schlossen sich Nkundas Rebellenarmee an. Zwar überwiegt bei weitem die Abneigung gegen Nkunda, der von den Kongolesen als Marionette Ruandas betrachtet wird. Doch es sind nicht nur seine Truppen, die die Bewohner rund um den Kivu-See zittern lassen. Soldaten der kongolesischen Armee sind für ihre Brutalität ebenso bekannt wie für ihre Disziplinlosigkeit. Erst am Dienstag raubten sie Mitarbeitern der Caritas bei der Verteilung von Hilfsgütern Uhren, Geld und Kreditkarten. Dass die Regierungstruppen ihren Standpunkt nördlich von Goma aufgeben mussten, überraschte niemanden, ebenso wenig wie die Erklärung, dass jeder Soldat nur hundert Schuss Munition gehabt habe. "Die haben kein Geld, kein Essen, keine Ausrüstung", fasst ein kongolesischer Geschäftsmann in Goma zusammen. "Kein Wunder, dass man hier sagt: Die kongolesische Armee kennt nur den Rückwärtsgang."

Die UN-Blauhelme kommen in der Bevölkerung kaum besser weg: Gerade erst mussten hundert indische Soldaten abgezogen werden, weil sie sich an minderjährigen Mädchen vergangen hatten. Eine im April bekannt gewordene Untersuchung wirft den Blauhelmen gar vor, mit illegal geschürften Mineralien gehandelt und Rebellen mit Waffen versorgt zu haben. Kein Wunder, dass aufgebrachte Kongolesen am Dienstag das UN-Hauptquartier in Goma mit Steinen bewarfen. Auch in Rutshuru wurden Blauhelme von wütenden Flüchtlingen angegriffen, als sie fünfzig ausländische Helfer in Sicherheit brachten - und sonst niemanden.

(Copyright Berliner Zeitung, 30.1.08)

Montag, 6. Oktober 2008

Zwei Ziegel vor, drei Ziegel zurück


Wie er so braungebrannt mit löchrigem T-Shirt und kurzer Hose vor seinem selbstgebauten Haus steht, sieht er aus wie Robinson Crusoe, gestrandet an einem Ort, wo die Alltagsgesetze seiner alten Heimat keine Gültigkeit haben. Doch nach drei Jahren hat sich Martin Grütters an vieles gewöhnt, was im südsudanesischen Rumbek anders ist. Zumindest nimmt er es hin. "Seit ein paar Tagen versuche ich, meine Bauarbeiter zu erreichen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann sagt er ganz schnell ,Okay, bye'." Okay bye, das heißt in Rumbek so viel wie: Vergiss es. Und das ist eine schlechte Nachricht für den Architekten, der versucht, auf zwei Baustellen so viele Fortschritte wie möglich zu erzielen, bevor die Regenzeit hereinbricht und alle Arbeit endgültig ruht. Doch langsam geht es in jedem Falle. "Was die Handwerker dir hier als Arbeitszeit in Wochen voraussagen, nimmst du lieber gleich in Monaten."

Vor fünf Jahren war Rumbek kaum mehr als eine Garnison: Die "Volksbefreiungsarmee" des Südsudan hatte hier ihre wichtigste Basis im mehr als zwanzigjährigen Krieg gegen sudanesische Truppen aus dem Norden. Bombenkrater prägen noch heute die unbefestigten Straßen. Im Regen verwandelt sich Rumbek in eine schlammige Seenlandschaft. Drei Jahre, nachdem die Anführer der afrikanisch-christlichen Ethnien im Süden Frieden mit der Regierung im islamisch-arabisch geprägten Norden geschlossen haben, ist von Entwicklung kaum etwas zu sehen - trotz Millionenhilfen aus Europa und den USA und trotz der Ölvorkommen, von denen die autonome Regierung des Südsudan auch profitiert. Rumbek ist seit dem Frieden gewachsen, mehr als 200 000 Bewohner hat die Stadt heute. Doch die Infrastruktur ist die gleiche, die während des Kriegs notdürftig ein paar tausend Soldaten versorgt hat. Statt Häusern stehen Tukuls über die Stadt verteilt, die traditionellen Rundhütten aus Stroh mit einem einzigen Raum, in dem das ganze Leben stattfindet. Latrinen stehen oft Kilometer entfernt.

Warum Martin Grütters Anfang 2005 sein einträgliches Büro in Berlin gegen ein Leben in dieser Halbwüste getauscht hat, wo es keinen Strom, keine Wasserleitungen und auch sonst sehr wenig gibt, kann er selbst nur schwer erklären. "Kein Gehalt zu beziehen, vermittelt mir ein besseres Lebensgefühl", setzt er an und erinnert sich an seine Zeit als selbstständiger Architekt in Berlin: "Beim Rechnungenschreiben hatte ich immer ein schlechtes Gefühl. Am besten ging es mir, wenn ich einen Tag pro Woche in einem Jugendzentrum der Caritas gearbeitet habe." Ohne Bezahlung. Nicht einmal Fahrgeld durfte die Caritas erstatten. "Ich bin sowieso meist mit dem Fahrrad gefahren." Von Tempelhof nach Lichtenberg und zurück.

Fahrradfahren ist die vielleicht größte Leidenschaft des 45-Jährigen. Auch in Rumbek fährt er auf einem Mountainbike zu seinen Baustellen, während die meisten Entwicklungshelfer in weißen Landrovern über die Pisten rasen.

Als Grütters an diesem Morgen sein Fahrrad an der Schule Mabor Ngap parkt, erlebt er eine Überraschung: Es wird gearbeitet. Fünf Zimmerleute ziehen eine Mauer. Grütters grüßt, läuft durch den Rohbau, gestikuliert, zeigt auf die Stricke, die den Verlauf der künftigen Wände abstecken und als Lot fungieren sollen. "Wenn man hier eine Mauer zieht, muss man schon mal mit zehn Zentimetern Toleranz rechnen", kommentiert er später den Baufortschritt.

Aber vor allem ist er glücklich, dass es weitergeht. Dass mehr als zwei Jahre nach Grundsteinlegung überhaupt schon Klassenräume stehen, in denen unterrichtet wird, scheint unglaublich, wenn man die Geschichte des Baus hört. "Einmal war ein Vertragspartner zwei Monate lang verschwunden", erinnert sich Grütters. "Später stellte sich heraus, er hatte einen Verkehrsunfall in der Nachbarstadt und saß zwei Monate im Gefängnis. Niemand, nicht einmal die Familie, wusste davon." Mit dem Nachfolger hatte Grütters noch mehr Scherereien. "Er hat die Frau seines Onkels verführt, und dieser wartete danach zwei Wochen lang mit der Kalaschnikow im Anschlag vor der Hütte des Übeltäters."

Blutrache ist im Südsudan nichts Ungewöhnliches. "Eines Nachts kam der Arme zu mir und bettelte mich um 200 Dollar an für ein Flugticket, damit er dem Onkel entfliehen kann." Schließlich einigten sich die Streitenden gütlich: Sieben seiner besten Kühe musste der Verführer seinem Onkel überlassen. Bis diese Abmachung getroffen war, lag die Baustelle wochenlang brach.

In solchen Fällen oder wenn die Bauarbeiter mal wieder nicht da sind, arbeitet Grütters einfach alleine weiter. Eines Nachmittags, der Architekt schleppte schwere Dachträger auf den Dachstuhl eines neuen Schulgebäudes und hämmerte sie fest, wurde es selbst dem Westfalen zu viel. "Die Lehrer saßen unterm Baum und haben zugeguckt, nicht mal den Hammer hat mir jemand gereicht." Er stieg vom Dach herunter und fuhr die Lehrerschar an, allesamt junge, kräftige Männer: "Kann mir hier vielleicht mal jemand helfen?" Gelacht hat niemand, aber erstaunte Blicke konnten die Lehrer nicht verbergen. "Aber Martin", sagte schließlich einer, "du weißt doch: man soll ohne Bezahlung nicht arbeiten." Dabei hätten die vom Staat bezahlten Lehrer ohne Martin Grütters keinen Job: Statt 120 Schüler wie vor drei Jahren hat Mabor Ngap heute zehn Mal so viele und entsprechend mehr Lehrer. Doch das feste Einkommen und der Stolz darüber, an der beliebtesten Schule der Stadt zu arbeiten, reichen nicht, um sich aus dem Schatten zu erheben. "Ich arbeite auch umsonst", rief Grütters. Die Verwunderung der Lehrer war ehrlich: "Wenn du das nicht willst, geh' doch nach Hause zurück." Den Nachmittag verbrachte Martin Grütters weiter hämmernd auf dem Dach - allein.

"Dankbarkeit erfahre ich hier nicht", bilanziert er. Auch nicht von den Eltern, die im Bürgerkrieg groß geworden sind und Schule eigentlich für Zeitverschwendung halten. Nur privat kann Grütters sich darüber freuen, dass heute ein gutes Fünftel der Schüler in Mabor Ngap Mädchen sind - auch das hat er geschafft. Manchmal fallen ihm die potenziellen Partner sogar in den Rücken: Weil sieben Klassen derzeit noch unter Palmen lernen müssen - in der Regenzeit fällt der Unterricht dann stundenlang aus -, wollte der Deutsche seine Spendengelder in den Bau neuer Klassenräume investieren. Doch die Schulbehörde stellte sich quer und forderte stattdessen ein Lehrerzimmer. Zähneknirschend gab Martin Grütters nach - und stoppte den Bau, als ihm 30 Sack Zement im Wert von mehr als 600 Euro von der Baustelle gestohlen wurden.

Es dauerte Wochen, bis die Schulbehörde überredet war, den Schaden zu übernehmen - und noch etliche mehr, um einen Laster aufzutreiben, der die Säcke vom nicht weit entfernten Lagerhaus zum Schulgelände bringen konnte. Lehrer oder Eltern halfen auch dieses Mal nicht. "Die haben gesagt: Was geht uns dein Zement an?", erzählt Martin Grütter ruhig. Aufzuregen scheint ihn das nicht. Seine Engelsgeduld ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um irgendwann ans Ziel zu kommen.

Weiter entfernt von seinem Lehrmeister Aldo Rossi, dem Mailänder Architekten, der die Form eines Gebäudes wichtiger als dessen Funktion fand, könnte Martin Grütters kaum sein als hier in Rumbek, wo er sich Stunden vor seiner Abreise nach Deutschland noch um Grundlegendes wie die Höhe der Wände für das Lehrerzimmer kümmern muss. Als er ins Flugzeug steigt, ist klar, dass er in ein paar Wochen auf unfertige Baustellen zurückkehren wird. Aber zurückkehren wird er, das ist sicher. "Ich schmeiße die Flinte nicht ins Korn, das bin einfach nicht ich."

Und dann zitiert er doch Aldo Rossi: "Einfachheit ist gut, hat er immer gesagt. Und das ist auch meine Lebensphilosophie." In Rumbek kann man damit weit kommen.

(Copyright Berliner Zeitung, 6.10.2008)