Donnerstag, 30. Oktober 2008

Panik in Goma


Erst sah in Goma alles aus wie an einem ganz normalen Tag. Zwar wurde nur zwanzig Kilometer von der Innenstadt entfernt gekämpft - Truppen unter dem Mandat der Vereinten Nationen versuchten gemeinsam mit der kongolesischen Armee die Milizen des berüchtigten Rebellengenerals Laurent Nkunda zurückzuschlagen. Doch die Menschen in der Provinzhauptstadt Goma sind an Krisen gewöhnt. Also gingen die Kinder zur Schule, Läden waren geöffnet, die Märkte gut besucht.

Aber dann brach Chaos aus. "Das Gerücht ging um, dass die Front gegen Nkunda zusammengebrochen sei, und plötzlich begannen alle zu laufen wie die Hasen", berichtet Georg Dörken von der Deutschen Welthungerhilfe, der seit 15 Jahren in der Region tätig ist.

Chaotische Szenen spielen sich ab, als Soldaten mit vorgehaltener Waffe Lastwagen beschlagnahmen, um vor den Rebellen zu fliehen, andere in Panik mit ihren Panzern Autos überrollen. Während die Uno alle internationalen Hilfsorganisationen auffordert, die Stadt sofort zu verlassen, bleiben die Bewohner ohne Schutz durch die kongolesische Armee zurück. Am Abend verbreitet sich das Gerücht, die Regierung in Kinshasa wolle die Stadt kampflos an Nkunda übergeben.

Bis dahin hatte die Ankündigung des Rebellensprechers Bertrand Bisimwa, Goma erobern zu wollen, noch voreilig geklungen. Denn der Vormarsch der Rebellen stockte, nachdem UN-Blauhelme am Dienstagnachmittag mit einer Offensive bei Kibumba, gut 20 Kilometer vor Goma, begonnen hatten. Alan Doss, Leiter der UN-Mission im Kongo (Monuc), warnte da allerdings schon: "Wir bleiben, wir werden die Städte verteidigen, aber unsere Truppen sind am Ende ihrer Kräfte angelangt und wir brauchen dringend Verstärkung." Auf die Aufstockung der mit mehr als 17 000 Soldaten weltweit größten UN-Schutztruppe konnte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aber bisher nicht einigen.

Dabei warnen Hilfsorganisationen angesichts der enormen Zahl von Flüchtlingen vor einer Katastrophe. Viele hatten sich in den vergangenen Tagen zu Fuß aus den umkämpften Gebieten aufgemacht, um in Goma Sicherheit zu finden. "In unseren Feldlazaretten arbeiten die Ärzte rund um die Uhr", sagt Clio van Cauter, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Goma. "Wir können nicht sagen, wie viele Flüchtlinge es genau sind, aber es sind sehr viele." Auf mehr als 800 000 hat die Uno die Zahl der Vertriebenen im Ost-Kongo Anfang des Jahres geschätzt. Dass die Zahl jetzt über die Millionengrenze steigt, ist wahrscheinlich.

Viele von ihnen sind schon länger vor den brandschatzenden und marodierenden Milizen auf der Flucht. Denn Nkunda, ein Tutsi mit kongolesischem Pass, hält die Region seit Jahren in Atem. 2004 marschierten er und seine Männer in Bukavu ein, der größten Stadt am südlichen Ende des Kivu-Sees. Unter den Augen von untätigen Blauhelm-Soldaten plünderten, vergewaltigten und mordeten Nkundas Leute, um sich dann zurückzuziehen. Die Blauhelme erklärten später, ihr Mandat habe kein Eingreifen zugelassen. Seither führt der "Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes", wie sich die Rebellentruppe schwülstig nennt, einen Guerillakrieg mit der Regierungsarmee, die selbst aus früheren Rebellen zusammengestückelt ist. Seine Hochburgen hat Nkunda in besonders unzugänglichen Gegenden der weitläufigen Region, in den Bergen nordwestlich des Virunga-Nationalparks und entlang der kongolesisch-ugandischen Grenze.

Was genau Laurent Nkunda mit seinem Kampf im Osten Kongos erreichen will, ist umstritten. Er gehört zu den Generälen, die im Kongokrieg für die einst mächtige "Sammlungsbewegung für ein demokratisches Kongo" (RCD Goma) gekämpft haben. Zwischen 1998 und 2003 kontrollierte seine Armee im Auftrag Ruandas die reichen Minen im Ostkongo. Als der Krieg zu Ende war, an dem zeitweise acht afrikanische Armeen beteiligt waren, sammelten sich um Nkunda diejenigen, die nicht - wie in den Friedensverträgen vorgesehen - in die kongolesische Armee integriert werden wollen. Und diejenigen, die wegen ihrer Kriegsverbrechen Angst vor Prozessen hatten.

Doch das ist nicht alles. Kaum jemand zweifelt daran, dass hinter der größten Offensive Nkundas seit der Einnahme von Bukavu Kongos winziger Nachbar zum Osten steckt: Ruanda. Am Mittwoch mehrten sich Augenzeugenberichte, nach denen ruandische Truppen selbst an den Kämpfen beteiligt waren. Demnach sollen ruandische Panzer Stellungen der kongolesischen Armee im Norden von Goma beschossen haben.

Nkunda selbst begründet seine Feldzüge damit, er wolle die Tutsi im Ost-Kongo schützen und die für den Völkermord in Ruanda verantwortlichen Hutu-Extremisten dorthin zurücktreiben, wo ihnen der Prozess gemacht werden soll. Tatsächlich wären so nah an der Grenze verschanzte Hutu-Milizen für den ruandischen Präsidenten Paul Kagame, dessen Tutsi-Armee 1994 die militanten Hutu erst nach dem Völkermord an mehr als 800 000 Tutsi und moderaten Hutu vertreiben konnte, ein Sicherheitsrisiko.

Die wahren Motive für Ruandas mutmaßliche Unterstützung könnten jedoch andere sein. "So lange im Ost-Kongo gekämpft wird, kann Ruanda ungestört die Minen in der Region ausbeuten und auf dem Schwarzmarkt Millionen damit machen", sagt ein Mitarbeiter einer großen deutschen Hilfsagentur in Kinshasa. Im Osten Kongos ballen sich Vorkommen wertvoller Mineralien wie Gold, Kobalt und Kupfer. Und noch ein in Ruanda knappes Gut gibt es: Land. "Gerüchte besagen, dass Ruanda die Kivu-Provinzen annektieren könnte, sobald Nkunda sie unter Kontrolle gebracht hat", sagt Georg Dörken von der Welthungerhilfe. "Beweise hat niemand, aber in Ruanda gibt es eine Bevölkerungsexplosion, Land ist jetzt schon äußerst knapp."

Die Menschen in Rutshuru, der Stadt, die den Rebellen schon am Mittwochmorgen in die Hände fiel, haben ihre Heimat lange nicht mehr gesehen. Wer hier ist, hat seinen persönlichen Alptraum schon hinter sich. In den Flüchtlingslagern nahe der Grenze zu Uganda leben Zehntausende, die in Panik vor den Milizen geflohen sind. Viele wurden von Nachbarn oder anderen Flüchtlingsgruppen gewarnt, als sie auf den Feldern arbeiteten, oder sind bei Nacht und Nebel aus dem Haus gerannt wie Mary, die vor einem Jahr mit ihrem kleinen Sohn im Kusasi Camp, einem der Lager von Rutshuru, ankam. "Wir haben nichts retten können, meinen Bruder und meinen Mann habe ich auf der Flucht verloren", sagt die junge Frau. Ihr Sohn wimmert im Fieber der Malaria, gegen die Mary ihn in den Behelfshütten aus Stroh und Plastikplanen nicht schützen kann. Mary hatte Glück: Vergewaltigung, Misshandlungen oder Folter, von denen die meisten Flüchtlinge berichten, blieben ihr erspart. Doch seit die Nkundas Truppen die Kontrolle in Rutshuru übernommen haben, sind die Vertriebenen wieder heimatlos. Während hinter ihnen humanitäre Einrichtungen geplündert und in Brand gesteckt werden, versuchen sie, jenseits der Grenze in Uganda Schutz zu suchen.

Bei den Geschundenen des Ost-Kongo, die in der einst reichsten Provinz des Kongo leben, macht sich nach mehr als zehn Jahren Krieg Hoffnungslosigkeit breit. Erst vor einigen Wochen legten einige lokale Abgeordnete ihr Mandat nieder und schlossen sich Nkundas Rebellenarmee an. Zwar überwiegt bei weitem die Abneigung gegen Nkunda, der von den Kongolesen als Marionette Ruandas betrachtet wird. Doch es sind nicht nur seine Truppen, die die Bewohner rund um den Kivu-See zittern lassen. Soldaten der kongolesischen Armee sind für ihre Brutalität ebenso bekannt wie für ihre Disziplinlosigkeit. Erst am Dienstag raubten sie Mitarbeitern der Caritas bei der Verteilung von Hilfsgütern Uhren, Geld und Kreditkarten. Dass die Regierungstruppen ihren Standpunkt nördlich von Goma aufgeben mussten, überraschte niemanden, ebenso wenig wie die Erklärung, dass jeder Soldat nur hundert Schuss Munition gehabt habe. "Die haben kein Geld, kein Essen, keine Ausrüstung", fasst ein kongolesischer Geschäftsmann in Goma zusammen. "Kein Wunder, dass man hier sagt: Die kongolesische Armee kennt nur den Rückwärtsgang."

Die UN-Blauhelme kommen in der Bevölkerung kaum besser weg: Gerade erst mussten hundert indische Soldaten abgezogen werden, weil sie sich an minderjährigen Mädchen vergangen hatten. Eine im April bekannt gewordene Untersuchung wirft den Blauhelmen gar vor, mit illegal geschürften Mineralien gehandelt und Rebellen mit Waffen versorgt zu haben. Kein Wunder, dass aufgebrachte Kongolesen am Dienstag das UN-Hauptquartier in Goma mit Steinen bewarfen. Auch in Rutshuru wurden Blauhelme von wütenden Flüchtlingen angegriffen, als sie fünfzig ausländische Helfer in Sicherheit brachten - und sonst niemanden.

(Copyright Berliner Zeitung, 30.1.08)