Montag, 6. Oktober 2008

Zwei Ziegel vor, drei Ziegel zurück


Wie er so braungebrannt mit löchrigem T-Shirt und kurzer Hose vor seinem selbstgebauten Haus steht, sieht er aus wie Robinson Crusoe, gestrandet an einem Ort, wo die Alltagsgesetze seiner alten Heimat keine Gültigkeit haben. Doch nach drei Jahren hat sich Martin Grütters an vieles gewöhnt, was im südsudanesischen Rumbek anders ist. Zumindest nimmt er es hin. "Seit ein paar Tagen versuche ich, meine Bauarbeiter zu erreichen, aber wenn jemand ans Telefon geht, dann sagt er ganz schnell ,Okay, bye'." Okay bye, das heißt in Rumbek so viel wie: Vergiss es. Und das ist eine schlechte Nachricht für den Architekten, der versucht, auf zwei Baustellen so viele Fortschritte wie möglich zu erzielen, bevor die Regenzeit hereinbricht und alle Arbeit endgültig ruht. Doch langsam geht es in jedem Falle. "Was die Handwerker dir hier als Arbeitszeit in Wochen voraussagen, nimmst du lieber gleich in Monaten."

Vor fünf Jahren war Rumbek kaum mehr als eine Garnison: Die "Volksbefreiungsarmee" des Südsudan hatte hier ihre wichtigste Basis im mehr als zwanzigjährigen Krieg gegen sudanesische Truppen aus dem Norden. Bombenkrater prägen noch heute die unbefestigten Straßen. Im Regen verwandelt sich Rumbek in eine schlammige Seenlandschaft. Drei Jahre, nachdem die Anführer der afrikanisch-christlichen Ethnien im Süden Frieden mit der Regierung im islamisch-arabisch geprägten Norden geschlossen haben, ist von Entwicklung kaum etwas zu sehen - trotz Millionenhilfen aus Europa und den USA und trotz der Ölvorkommen, von denen die autonome Regierung des Südsudan auch profitiert. Rumbek ist seit dem Frieden gewachsen, mehr als 200 000 Bewohner hat die Stadt heute. Doch die Infrastruktur ist die gleiche, die während des Kriegs notdürftig ein paar tausend Soldaten versorgt hat. Statt Häusern stehen Tukuls über die Stadt verteilt, die traditionellen Rundhütten aus Stroh mit einem einzigen Raum, in dem das ganze Leben stattfindet. Latrinen stehen oft Kilometer entfernt.

Warum Martin Grütters Anfang 2005 sein einträgliches Büro in Berlin gegen ein Leben in dieser Halbwüste getauscht hat, wo es keinen Strom, keine Wasserleitungen und auch sonst sehr wenig gibt, kann er selbst nur schwer erklären. "Kein Gehalt zu beziehen, vermittelt mir ein besseres Lebensgefühl", setzt er an und erinnert sich an seine Zeit als selbstständiger Architekt in Berlin: "Beim Rechnungenschreiben hatte ich immer ein schlechtes Gefühl. Am besten ging es mir, wenn ich einen Tag pro Woche in einem Jugendzentrum der Caritas gearbeitet habe." Ohne Bezahlung. Nicht einmal Fahrgeld durfte die Caritas erstatten. "Ich bin sowieso meist mit dem Fahrrad gefahren." Von Tempelhof nach Lichtenberg und zurück.

Fahrradfahren ist die vielleicht größte Leidenschaft des 45-Jährigen. Auch in Rumbek fährt er auf einem Mountainbike zu seinen Baustellen, während die meisten Entwicklungshelfer in weißen Landrovern über die Pisten rasen.

Als Grütters an diesem Morgen sein Fahrrad an der Schule Mabor Ngap parkt, erlebt er eine Überraschung: Es wird gearbeitet. Fünf Zimmerleute ziehen eine Mauer. Grütters grüßt, läuft durch den Rohbau, gestikuliert, zeigt auf die Stricke, die den Verlauf der künftigen Wände abstecken und als Lot fungieren sollen. "Wenn man hier eine Mauer zieht, muss man schon mal mit zehn Zentimetern Toleranz rechnen", kommentiert er später den Baufortschritt.

Aber vor allem ist er glücklich, dass es weitergeht. Dass mehr als zwei Jahre nach Grundsteinlegung überhaupt schon Klassenräume stehen, in denen unterrichtet wird, scheint unglaublich, wenn man die Geschichte des Baus hört. "Einmal war ein Vertragspartner zwei Monate lang verschwunden", erinnert sich Grütters. "Später stellte sich heraus, er hatte einen Verkehrsunfall in der Nachbarstadt und saß zwei Monate im Gefängnis. Niemand, nicht einmal die Familie, wusste davon." Mit dem Nachfolger hatte Grütters noch mehr Scherereien. "Er hat die Frau seines Onkels verführt, und dieser wartete danach zwei Wochen lang mit der Kalaschnikow im Anschlag vor der Hütte des Übeltäters."

Blutrache ist im Südsudan nichts Ungewöhnliches. "Eines Nachts kam der Arme zu mir und bettelte mich um 200 Dollar an für ein Flugticket, damit er dem Onkel entfliehen kann." Schließlich einigten sich die Streitenden gütlich: Sieben seiner besten Kühe musste der Verführer seinem Onkel überlassen. Bis diese Abmachung getroffen war, lag die Baustelle wochenlang brach.

In solchen Fällen oder wenn die Bauarbeiter mal wieder nicht da sind, arbeitet Grütters einfach alleine weiter. Eines Nachmittags, der Architekt schleppte schwere Dachträger auf den Dachstuhl eines neuen Schulgebäudes und hämmerte sie fest, wurde es selbst dem Westfalen zu viel. "Die Lehrer saßen unterm Baum und haben zugeguckt, nicht mal den Hammer hat mir jemand gereicht." Er stieg vom Dach herunter und fuhr die Lehrerschar an, allesamt junge, kräftige Männer: "Kann mir hier vielleicht mal jemand helfen?" Gelacht hat niemand, aber erstaunte Blicke konnten die Lehrer nicht verbergen. "Aber Martin", sagte schließlich einer, "du weißt doch: man soll ohne Bezahlung nicht arbeiten." Dabei hätten die vom Staat bezahlten Lehrer ohne Martin Grütters keinen Job: Statt 120 Schüler wie vor drei Jahren hat Mabor Ngap heute zehn Mal so viele und entsprechend mehr Lehrer. Doch das feste Einkommen und der Stolz darüber, an der beliebtesten Schule der Stadt zu arbeiten, reichen nicht, um sich aus dem Schatten zu erheben. "Ich arbeite auch umsonst", rief Grütters. Die Verwunderung der Lehrer war ehrlich: "Wenn du das nicht willst, geh' doch nach Hause zurück." Den Nachmittag verbrachte Martin Grütters weiter hämmernd auf dem Dach - allein.

"Dankbarkeit erfahre ich hier nicht", bilanziert er. Auch nicht von den Eltern, die im Bürgerkrieg groß geworden sind und Schule eigentlich für Zeitverschwendung halten. Nur privat kann Grütters sich darüber freuen, dass heute ein gutes Fünftel der Schüler in Mabor Ngap Mädchen sind - auch das hat er geschafft. Manchmal fallen ihm die potenziellen Partner sogar in den Rücken: Weil sieben Klassen derzeit noch unter Palmen lernen müssen - in der Regenzeit fällt der Unterricht dann stundenlang aus -, wollte der Deutsche seine Spendengelder in den Bau neuer Klassenräume investieren. Doch die Schulbehörde stellte sich quer und forderte stattdessen ein Lehrerzimmer. Zähneknirschend gab Martin Grütters nach - und stoppte den Bau, als ihm 30 Sack Zement im Wert von mehr als 600 Euro von der Baustelle gestohlen wurden.

Es dauerte Wochen, bis die Schulbehörde überredet war, den Schaden zu übernehmen - und noch etliche mehr, um einen Laster aufzutreiben, der die Säcke vom nicht weit entfernten Lagerhaus zum Schulgelände bringen konnte. Lehrer oder Eltern halfen auch dieses Mal nicht. "Die haben gesagt: Was geht uns dein Zement an?", erzählt Martin Grütter ruhig. Aufzuregen scheint ihn das nicht. Seine Engelsgeduld ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um irgendwann ans Ziel zu kommen.

Weiter entfernt von seinem Lehrmeister Aldo Rossi, dem Mailänder Architekten, der die Form eines Gebäudes wichtiger als dessen Funktion fand, könnte Martin Grütters kaum sein als hier in Rumbek, wo er sich Stunden vor seiner Abreise nach Deutschland noch um Grundlegendes wie die Höhe der Wände für das Lehrerzimmer kümmern muss. Als er ins Flugzeug steigt, ist klar, dass er in ein paar Wochen auf unfertige Baustellen zurückkehren wird. Aber zurückkehren wird er, das ist sicher. "Ich schmeiße die Flinte nicht ins Korn, das bin einfach nicht ich."

Und dann zitiert er doch Aldo Rossi: "Einfachheit ist gut, hat er immer gesagt. Und das ist auch meine Lebensphilosophie." In Rumbek kann man damit weit kommen.

(Copyright Berliner Zeitung, 6.10.2008)