Donnerstag, 18. Oktober 2007

Das Bagdad Afrikas


Seit einem Jahr stehen auf der brüchigen Betonpiste, auf der am 17. Oktober 1977 die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" am Ende einer fünftägigen Odyssee landete, ab und zu wieder Flugzeuge. Davor waren Start- und Landebahn lange nur von Geländewagen benutzt worden, die die Abkürzung zwischen Innenstadt und Strand in Höchstgeschwindigkeit zurücklegten, um nicht von Milizen beschossen zu werden.

Inzwischen landen in Mogadischu täglich einige grün gestrichene Boeing-Maschinen, deren Kabinen ausgeweidet wurden, um viel Platz für Khat, ein in Kenia angebautes mildes Rauschkraut, zu schaffen. Kleinstairlines wie Daallo oder African Express fliegen Mogadischu ein bis zwei Mal die Woche an. Die restlichen Maschinen auf dem International Airport sind Transporter und Helikopter der ugandischen Armee, ohne deren Einsatz unter Mandat der Afrikanischen Union kein Flugverkehr möglich wäre. Denn trotz Straßensperren und schwer bewaffneter Wachen detonieren auf dem Flugplatz immer wieder Handgranaten. Im März setzte eine Rakete vermutlich islamistischer Kämpfer eine Antonow im Landeanflug in Brand.

Alle haben Waffen

30 Jahre nachdem die Befreiung von 86 Passagieren eines von palästinensischen Terroristen entführten Lufthansa-Flugs weltweit Schlagzeilen machte, ist Mogadischu eine Frontstadt in einem Land ohne Staat. Der kam Somalia mit der Flucht des Diktators Siad Barre 1991 abhanden. Derzeit kämpfen Islamisten, die Ende 2006 von der äthiopischen Armee nach nur einem halben Jahr an der Regierung vertrieben wurden, gemeinsam mit Kämpfern des größten Clans der Stadt gegen die Besatzer aus dem Nachbarland und die Übergangsregierung von Premier Ali Mohammed Ghedi, der zugleich gegen Präsident Abdullahi Yusuf und um sein politisches Überleben kämpfen muss - letzteres bisher noch ohne Waffen. "Bagdad Afrikas" nennen einige die einst blühende Handels- und Universitätsstadt am Indischen Ozean. "Mogadischu ist ein Dschungel, in dem jeder machen kann, was er will", beschreibt Mohammed Hurre, Leiter einer somalischen Menschenrechtsorganisation, die Lage. "Die Regierung hat keine Kontrolle, die Aufständischen sind im Untergrund, alle haben Waffen, die Gewalt nimmt unaufhaltsam zu zu."

Auch die wenigen, die in Mogadischu noch helfen, die Not zu lindern, geraten zwischen die Fronten. Gestern wurde der Leiter des Welternährungsprogramms (WFP) verhaftet. Regierungssoldaten stürmten das UN-Quartier und transportierten Idris Mohammed Osman ab. Er solle verhört werden, hieß es. In Somalia sind 1,2 Millionen Menschen auf die Nahrungsmittelhilfe des WFP angewiesen.

"Daryeel Bulsho Guud" (DBG) ist Somalisch für "Hilfe für alle" und der Name eines der größten somalischen Hilfswerke. Auch DBG-Leiter Abukar Scheich Ali und seine Kollegen waren im April zur Zielscheibe geworden. Mehrere Mitarbeiter mussten im Büro ausharren, das äthiopische Truppen bombardierten. Erst nach 24 Stunden konnten die Verletzten behandelt werden, einer von ihnen starb.

Die DBG-Leute erinnern sich an viele katastrophale Situationen in den 16 anarchischen Jahren nach Barre. Aber so schlimm wie dieses Jahr war es nie, sagen sie. Selbst 1993 nicht, als US-Truppen erfolglos versuchten, den damaligen Kriegsherrn Mohammed Aidid umzubringen und tote US-Soldaten durch die Straßen gezerrt wurden. Ridley Scott verfilmte das Desaster in "Black Hawk Down".

Während der Kämpfe im Frühjahr kamen hunderte, manche sagen Tausende, ums Leben. Schließlich gab es in der Stadt nur noch Helfer, Kämpfer und einige, die Haus und Besitz verteidigen wollten. Alle anderen waren auf der Flucht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zählte im April mehr als 400 000 aus Mogadischu Vertriebene, von denen bisher nur ein Zehntel heimgekehrt ist. "Die Leute würden gerne zurückkommen, aber die Häuser sind zerstört, es gibt keinen Strom, kein Wasser", sagt DBG-Mann Abukar.

Viele Straßenzüge ähneln immer noch denen einer Geisterstadt. Dabei ist erstaunlich, was nach 16 Jahren Regierungslosigkeit doch funktioniert. Zwischen den Ruinen blüht wieder das Geschäft. Wer es sich leisten kann, hat über diverse Handynetze günstige Telefonverbindungen in alle Welt, Emails werden in DSL-Geschwindigkeit abgerufen. Auf den Straßen sind moderne Geländewagen unterwegs, importiert aus Dubai. Dubai ist zweiter Wohnsitz der somalischen "Businessmen", Geschäftsleute, die alles arrangieren können, wenn der Preis stimmt. Weil das gesetzlose Somalia spätestens seit dem UN-Abzug Anfang der 90er-Jahre international geächtet ist, laufen finanzielle Transaktionen über die Finanzmetropole im nahen Emirat.

Waffen sind in Mogadischu gängige Handelsware. In einer Stadt ohne Polizei und Gerichte werden selbst Stromrechnungen von schwer bewaffneten Kämpfern eingetrieben. Ohne Staat gibt es auch keine staatliche Energieversorgung. Mehrere Geschäftsleute betreiben deshalb private Netze, beim Kassieren machen sie kurzen Prozess. Zwar ist nicht mehr alles so einfach wie noch vor anderthalb Jahren, weil die Regierung versucht, Gesetze einzuführen. Doch bisher bleibt es beim Versuch.

Wenn die Sonne aufgeht über den Minaretten, stehen die Bewohner im armen Stadtteil Argentina schon Schlange am Brunnen. Geduldig warten sie, bis sie mit einem der kostbarsten Güter versorgt werden: Trinkwasser. Ein Dieselmotor pumpt es an die Oberfläche. Seit Jahren bohrt DBG Brunnen in bedürftigen Stadtteilen. Denn solche Aufgaben übernehmen die Businessmen nicht: Viel Arbeit, wenig Profit. Die Regierung hat immerhin Leute eingestellt, um die stinkenden Überreste von 16 Jahren ohne Müllentsorgung zu entfernen.

Hoffnung auf Normalität

Trotz Chaos und Anarchie geben die Bewohner Mogadischus die Hoffnung nicht auf, dass der Alltag eines Tages wieder normal sein könnte. So regt sich Widerstand dagegen, dass die Regierung, unabhängige Medien unterdrückt. Radiostationen wurden geschlossen, mehrere Journalisten unter unklaren Umständen ermordet.

Die Kontrolle der Medien hat in Somalia Tradition: Als die GSG9 die "Landshut" befreit hatte, ließ Siad Barre verlauten, somalische Kommandos hätten dem Treiben der Terroristen ein Ende bereitet. Tatsächlich hatten sie nur die Maschine umstellt. Doch Spiegel-Korrespondent Wolf Dieter Steinbauer berichtete damals, wie sich in Mogadischu in kürzester Zeit eine bis dahin unbekannte Deutschenfreundlichkeit ausbreitete: "Lachende Somalis heben allenthalben die gespreizten Finger zum Siegeszeichen, sobald sie deutsche Laute hören." So etwas gibt es heute nicht mehr, aber an den glänzendsten Moment im Licht der Weltöffentlichkeit erinnern sich bis heute alle, die alt genug sind. Schließlich ist die Gegenwart mehr als deprimierend.

(Copyright Berliner Zeitung, 18.10.07)