Mittwoch, 28. November 2007

Wenn die Wüste Bücher verschlingt


Wenn die Sonne in einem diffusen Schimmer den Horizont grau färbt, ist das Leben in Chinguetti bereits voll im Gang. In weiße Kaftane gehüllte Männer treiben ihre Kamelherden hinaus in die Dünen, die die Karawanenstadt inmitten der Sahara umgeben. Hier, im Nordosten des Wüstenstaats Mauretanien, hat sich in den mehr als 700 Jahren seit der Gründung Chinguettis vieles kaum verändert. Natürlich gibt es inzwischen Mobiltelefone, mit denen die Kameltreiber sich irgendwo da draußen in der Wüste verabreden können. Manche haben Autos, mit denen sie durch den meist trocken liegenden Wadi preschen. Doch wer irgendwo anklopft und um Auskunft bittet, wird zunächst zu einem Glas süßen Tee mit einem Hauch Minze eingeladen. Der Tee muss mehrmals hin und her geschüttet werden, damit er ausreichend schäumt. Drei Gläser muss der Gast trinken, erst ein viertes darf er ausschlagen.

Mit solchen Traditionen soll das Überleben derjenigen gesichert werden, die den weiten Weg durch die Wüste hinter sich gebracht haben. Wer es nach Chinguetti geschafft hat, ist zweifellos weit gereist. Wie die Karawanen, die im 12. Jahrhundert aus Arabien kamen, um Gold, Elfenbein und andere afrikanische Kostbarkeiten einzukaufen. Mit ihnen kam der Islam. Chinguetti gilt als "das siebte Mekka" und ist seit jeher für seine Schriftgelehrten berühmt, die schon vor hunderten von Jahren Traktate zur Auslegung des Korans verfassten, ebenso wie wissenschaftliche Schriften. Bis heute sind Religion und Handel die Taktgeber im Leben Chinguettis.

Auf der Marktstraße im Schatten der neuen Moschee haben sich wie jeden Morgen fliegende Händlerinnen und Händler vor den wenigen Läden versammelt. Während sie ein paar Tomaten, gelbleuchtende frische Datteln oder in kostbares Wasser getauchte Minze feilbieten, erzählen sie von den Veränderungen. "Es ist heißer geworden, immer heißer", sagt Fatimah, deren Gesicht schwarz verschleiert ist. "Viele meiner Verwandten waren Nomaden und sind jetzt sesshaft geworden, weil es selbst das wenige, was wir früher in der Wüste hatten, nicht mehr gibt." Unvorhersagbar sei die Sahara geworden, pflichtet Fatimas Nachbarin bei: Wo es früher stets Wasserlöcher gegeben hätte, seien sie heute im Sand verschwunden. "Das wenige Ackerland ist von Dünen förmlich überspült worden."

Klimaforscher führen den noch schnelleren Vormarsch der Dünen, die Desertifikation, direkt auf gestiegene Temperaturen zurück. Diese begünstigen stärkere Winde, die den Sand vor sich hertreiben und seine zerstörerische Kraft verstärken. Eine halbe Stunde Fahrt in die Sahara bringt uns zu einem kleinen Dorf mit quadratischen Hütten aus Lehm. Haus und Palmenhain, gespeist aus einem nahen Brunnen, sind von Zäunen aus Palmblättern und Holz umgeben, die den Sand aufhalten sollen. "Das ist eine traditionelle Technik, denn Wüstenvormarsch hat es schon immer gegeben", erklärt Lemine, der aus dieser Gegend stammt. "Aber die Wucht des Sandes ist so stark geworden, dass die Zäune nicht mehr halten. Dieses Dorf wird langsam vom Sand eingeschlossen. Man kann nichts dagegen tun."

In Chinguetti selbst ist es ähnlich. Während das Leben in der höher gelegenen Neustadt mit ihrer Marktstraße blüht, ist in der Altstadt jenseits des Wadis kaum eine Menschenseele unterwegs. Einer der wenigen, der hier noch die Stellung hält, ist Saif Islam, 59. Er ist der Spross einer Familie, die seit Jahrhunderten die einzigartigen Bücher und Schriften der Glaubensgelehrten in einer Privatbibliothek aufbewahrt. Mehrere solche Bibliotheken in ihren historischen Gebäuden sind der Grund dafür, dass die Unesco Chinguetti zum Weltkulturerbe ernannt hat. "Das Haus ist fast so alt wie die Schriften", erklärt Islam, der mit einem Schlüssel von der Größe eines Handfegers das rappelnde Schloss öffnet und den schweren Holzriegel zurückschiebt. Er öffnet ein zweites Portal, das vom Innenhof abgeht, bückt sich durch die Tür, die kaum höher als einen Meter ist, und steht in seiner Bibliothek. "Dies ist eines der größten Bücher, die ich habe, es stammt aus dem 17. Jahrhundert: der Hadith, die Worte des Propheten", sagt Islam und zieht ein gebundenes Buch aus einem einfachen Pappschuber, mit dem er die unersetzlichen Werke gegen Staub und Termiten schützt.

Islam kennt seine Bücher, die sich seit 1698 im Besitz seiner Familie befinden. Blind greift er in die Regale und fördert Kostbarkeiten zu Tage. "Dies ist der einzige Koran in Chinguetti, der auf Gazellenhaut geschrieben ist, und hier eine Grammatik aus dem 15. Jahrhundert - der Text in Rot, die Anmerkungen in Schwarz." Der mehrfache Großvater und seine Familie leben davon, dass diese Bücherei existiert. "Dies ist eine Privatsammlung, keine öffentliche Bücherei", sagt er. Die Regierung im fernen Nouakchott hat einmal versucht, die Besitzer zu enteignen und die Schriften in eine öffentliche Bücherei zu legen. In dem leeren Gebäude verstauben heute die Regale. Heute bangt Islam aus anderen Gründen um seine Bibliothek. Er kennt den vor zwei Jahren veröffentlichten Bericht des Unesco-Komitees für das Welterbe: "Antike Stätten sind für ein bestimmtes Mikroklima gebaut worden und werden durch den Klimawandel in ihrem Bestand bedroht." Gebäude bröckeln weg, weil Hitze oder starke Regenfälle den Boden auflösen, auf dem sie stehen. In Timbuktu im Norden Malis, wie Chinguetti eine Saharastadt, seien antike Gebäude von den vormarschierenden Dünen regelrecht erdrückt worden.

Dass sich das Klima geändert hat, bestätigt Saif Islam. Er bemerkt, wie Papiere brüchiger werden, weil die Temperaturen seit Beginn der 90er-Jahre stetig steigen. Weil es generell heißer und trockener geworden ist als in der Wüste ohnehin schon, rücken zudem die Dünen viel stärker vor. "Diese Stadt ist akut bedroht", konstatiert Saif Islam. "Wenn die Wüste noch weiter in die Stadt vormarschiert, wird die Bibliothek verschüttet und muss in die Neustadt evakuiert werden."

Schon jetzt ist von Chinguettis Altstadt kaum mehr übrig als Ruinen, die mit Sand vollgelaufen sind. Auch um Saif Islams Bibliothek liegt ein Ring aus Sand. Neuerdings tragen auch seltene, aber heftige Regenfälle in Chinguetti zur Zerstörung der Fundamente bei. "Die Leute freuen sich über den Regen, jeder Niederschlag ist hier ein Grund zum Feiern", räumt Saif Islam ein. Doch im Wechselspiel der Extreme droht Chinguettis einzigartiges kulturelles Erbe unterzugehen - und damit ein ganzer Wirtschaftszweig. Gerade in Entwicklungsländern wie Mauretanien, so warnt die Unesco, gehe durch den Klimawandel nicht nur Bewusstsein für die Geschichte verloren. "Es geht um Existenzen: Die Leute leben von Touristen, die die Kulturdenkmäler sehen wollen. Bleiben sie weg, breitet sich Armut aus."

Saif Islam schließt sein schweres Portal wieder ab. "Vielleicht lässt die Verwüstung ja doch wieder nach, inschallah", seufzt er. Moderne Schutzwälle oder irgendwelche technischen Wunderwerke kann sich hier in der Sahara niemand leisten. Hoffnung hingegen kostet nichts, auch wenn sie vergebens scheint. Ein paar Straßen von Saif Islams Bücherei entfernt hat jemand eine dreieinhalb Meter hohe Messlatte aufgestellt. "Hier wurden im Juli 2003 3,5 Meter Dünensand abgetragen", heißt es daneben. Gut die Hälfte der Latte ist schon wieder vom Sand eingeschlossen.

(Copyright Berliner Zeitung, 28.11.07)