Donnerstag, 18. Dezember 2008

Colonel Tod tritt vor seinen Richter


Die Stufen, die in die Katakomben unter der Kirche von Ntarama führen, knarren in der Stille. Nur wenige Meter abwärts führt die schmale Treppe in eine kalte und staubige Gruft, in der die sterblichen Überreste tausender Opfer des Genozids von 1994 aufgebahrt sind. Särge stapeln sich an den Wänden, doch von den meisten Toten ist nicht mehr übrig geblieben als der Schädel. Wie groteskes Obst an einem Marktstand liegen sie auf Brettern aufgereiht.

Als im April 1994 die Verfolgung der Tutsi und moderaten Hutu begann, verschanzten sich die Verfolgten von Ntarama in der Kirche, weil sie sich dort sicher fühlten. Doch die Verfolger kannten kein Erbarmen: Sie warfen erst Granaten und stürmten dann das Gotteshaus. Mehr als 10 000 Menschen, so berichten die wenigen überlebenden Augenzeugen, wurden mit Macheten und bloßen Händen umgebracht. Im ganzen Land waren es bis zum Ende des Völkermords mindestens 800 000.

In Ntarama wurden so viele ermordet, dass auch heute, 14 Jahre nach dem Genozid, nicht alle Gebeine unter der Erde sind. Im Seitenschiff der Kirche stehen Plastiksäcke voller Knochen, die noch beigesetzt werden müssen. "Niemand soll jemals sagen können, den Genozid habe es nicht gegeben", hofft André Kamana, der Touristen durch die Gedenkstätte führt.

Der Mann, der den Völkermord an der ethnischen Bevölkerungsminderheit der Tutsi minutiös vorbereitet haben soll, sitzt seit elf Jahren in einer Zelle im tansanischen Arusha, wo er sich dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ruanda stellt. Heute geht sein Prozess zu Ende: Nach 408 Verhandlungstagen verkündet der erste Senat das Urteil gegen Théoneste Bagosora, genannt Colonel Tod. Das Urteil gilt als das bedeutendste seit der Einrichtung des Tribunals.

Die Anklage gegen den 1941 geborenen Militär, der im Genozid als Kabinettsdirektor das Verteidigungsministerium leitete, lautet unter anderem auf Verschwörung, Aufhetzung und Anstiftung zum Völkermord sowie diverse Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Bagosora nahm an der Planung, Vorbereitung und Ausführung einer Strategie (für den Völkermord) teil", heißt es in der Klageschrift. "Die Verbrechen wurden von ihm persönlich, mit seiner Hilfe oder von seinen Untergebenen mit seinem Wissen und Einverständnis ausgeführt." Auch Morde und Vergewaltigungen warfen ihm Zeugen der Anklage im Laufe des Prozesses vor. Bagosora gab offenkundig nicht nur die Befehle, sondern war bei den blutigen Massakern gerne selbst dabei. Er selbst will davon nichts wissen: Bis heute weist Bagosora alle zwölf Anklagepunkte zurück. "Ich glaube nicht an die Theorie, dass es einen Genozid gegeben hat", ließ er das verblüffte Tribunal wissen.

Dabei war Bagosora zweifellos einer seiner Organisatoren. Nach dem gewaltsamen Tod von Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana - sein Flugzeug wurde beim Landeanflug auf Ruandas Hauptstadt Kigali abgeschossen - riss Bagosora sofort die Macht an sich; Stunden später begannen die ersten Massaker. "Bagosora übernahm die Kontrolle über Ruanda", sagte der kanadische General Roméo Dallaire im Prozess aus. An sein Treffen mit Bagosora an besagtem Abend erinnert er sich genau: "Bagosora erklärte mir, das Militär werde jetzt die Regierung übernehmen, und ich erinnerte ihn daran, dass Ruanda immer noch eine Premierministerin habe, die jetzt an der Spitze des Staates stehe."

Bagosora habe sich aufgeregt, niemals werde er das akzeptieren. Wenige Stunden später waren Premierministerin Agathe Uwilingiyimana und ihre Schutztruppe, zehn belgische UN-Blauhelme, tot. Bagosora trifft da bereits alle Entscheidungen: Er verhängt eine Ausgangssperre und ruft das Komitee zusammen, das eine ihm genehme Übergangsregierung wählt. Bei einer Party erklärt er Zeugen zufolge in bester Laune: "Wir müssen alle Tutsi umbringen, um jeden Preis. Eine solche Chance kriegen wir nie wieder." Moderate Offiziere, die das nicht mittragen wollen, entlässt er oder stellt sie kalt. Vor allem aber setzt er den Völkermord ins Werk.

Listen habe Bagosora verteilt, berichtet ein Zeuge, der im Prozess von Den Haag aus über Video gegen Bagosora aussagt. "Ab dem 9. April gab es eine Liste von ihm, auf der prominente Tutsi standen, die als erste umgebracht werden sollten." Wer darauf stand, sei meist einen Tag später tot gewesen. Bagosora ist kein Opportunist, er ist Überzeugungstäter. Seine erste Liste von "Staatsfeinden" stellte er bereits drei Jahre vor dem Genozid auf, als Präsident Habyarimana ihm den Auftrag gibt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was müssen wir tun, um den Feind militärisch, propagandistisch und politisch zu besiegen? Habyarimanas Hutu-dominierte Einparteienregierung spürte den Druck der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), einer mehrheitlich aus Tutsi bestehenden Rebellenbewegung, die von Uganda aus operierte.

Bagosoras Bericht liest sich bereits wie die Hetzreden, die er während des Genozids im Radio verbreiten lässt. "Der Feind, das sind die Tutsi, regierungskritische Hutu und Ausländer, die mit Tutsi verheiratet sind." Bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen spricht Bagosora noch unverblümter: "Wir brauchen einen Krieg, der das Land in ein apokalyptisches Chaos stürzt, damit wir alle Tutsi eliminieren können, dann erst haben wir Frieden." Als Habyarimana 1993 einen Friedensvertrag mit der RPF unterschreibt, verlässt Bagosora unter Protest den Saal. Mehrere wollen gehört haben, wie er sich mit dem Satz verabschiedete: "Ich kehre nach Ruanda zurück, um die Apokalypse vorzubereiten."

Mit Unterstützung eines faschistoiden Zirkels von Hutu-Extremisten, der von der Frau des Präsidenten geführt wird, schafft Bagosora die militärische Basis für den Völkermord. Sein 1993 geschriebenes Programm für "Zivile Selbstverteidigungsgruppen", das er zunächst nicht umsetzen darf, ist ein Leitfaden für die mit Macheten und kruden Waffen ausgerüsteten Mordtrupps, die ein Jahr später binnen Wochen in ganz Ruanda aufgestellt werden.

Bagosora selbst soll entschieden haben, dass Gewehre für die Massenmorde zu teuer seien, auf sein Geheiß wurden hunderttausende Macheten importiert. Verantwortlich für die Aufstellung der Trupps blieb bis zuletzt Bagosora. "Das Modell der Zivilen Verteidigungsgruppen, für welches aufgerüstete Zivilisten zur Eliminierung aller Tutsi aufgehetzt wurden, machte aus einem potenziellen Bürgerkrieg einen Genozid", konstatiert die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch. Im Prozess wurden Filme gezeigt, die Bagosora zeigen, während er den Milizen Befehle gibt.

Doch trotz der erdrückenden Beweislast gibt sich Bagosora als Opfer einer politischen Verschwörung. "Ich erkläre feierlich, dass ich niemals einen Menschen getötet oder die Ermordung von irgendjemandem angeordnet habe", erklärte er in seinem Schlussplädoyer. Seine Verteidiger haben geschuftet, um diesen Eindruck zu untermauern. 160 Zeugen haben sie aufgeboten, fast doppelt so viele wie die Anklage. Am Gesamteindruck änderte das wenig. Der Architekt der ruandischen "Endlösung" steht vor ernsthaften Richtern.

(Copyright Berliner Zeitung, 18.12.08)