Mittwoch, 6. Februar 2008

Menschenjagd im Westen Kenias


Margaret Njeri sitzt auf einem zusammengerollten Teppich, den sie zusammen mit ein paar Möbelstücken in einem zerbeulten Matatu-Bus untergebracht hat. Ihr Blick irrt ziellos durchs Leere, die notdürftig zusammen gezimmerten Unterkünfte aus Holz und Plane nimmt sie kaum noch wahr. Seit sechs Tagen hat die mehrfache Großmutter im Schatten der St. John’s Cathedral im Zentrum von Eldoret, der größten Stadt im nördlichen Rift Valley, unter freiem Himmel kampiert. Jetzt will sie ihre restlichen Besitztümer irgendwo vor Plünderern und dem drohenden Regen in Schutz bringen. Doch wo das sein kann, weiß sie noch nicht.

"Ich habe auf einem kleinen Hof, etwa dreißig Kilometer von Eldoret entfernt, gelebt", erzählt sie. "Vor einer Woche zog plötzlich eine aufgebrachte Menge durch unseren Ort. 'Kikuyus, verschwindet!', haben sie gerufen." Sie hatte noch Glück im Unglück. Freunde warnten sie per Handy vor dem Mob, so konnte sie noch ein paar Sachen in Sicherheit bringen. Alles andere, so vermutet sie, ist zusammen mit ihrem Haus und den Feldern in Flammen aufgegangen. Ihre Hand streicht über einen Sack Mais. "Das ist der letzte, den ich noch für meine Kinder habe. Ich kann ihn doch nicht draußen im Regen stehen lassen, dann hätten wir nicht mal mehr zu essen." Ihr ältester Sohn ist unterwegs, er sucht in einem Vorort von Eldoret nach einem Haus für die Familie. Ob es da sicher ist? "Das weiß ich nicht", sagt Margaret Njeri, "aber irgendwo müssen wir doch hin."

Vertriebene wie sie gibt es dieser Tage Tausende in Eldoret. Und wie sie sind die meisten Kikuyu, die Volksgruppe, der auch der umstrittene neue Präsident Mwai Kibaki angehört. Während aufgebrachte Horden von Kalenjin, der Mehrheitsethnie in dieser Region Kenias, unaufhaltsam durch die Felder und Gehöfte der ländlichen Region marodierten und regelrechte Jagd auf Kikuyu machten, suchten ihre Opfer Schutz in Polizeistationen, Schulen und Kirchen. Doch vor den Massenprotesten, zu denen die Opposition ab diesem Mittwoch aufgerufen hat, scheinen auch diese Orte nicht mehr sicher genug. Wer irgend kann, flüchtet in die Zentralprovinz, dort sind die Kikuyu in der Mehrheit.

Am Busbahnhof von Eldoret herrscht Chaos. Reifen quietschen, Matatus schieben sich durch die Menge, die Menschen versuchen sich zu den Türen der großen Busse durchzukämpfen, dort werden die Tickets verkauft. Von hinten hupen schon neue Busse. Männer mit nacktem Oberkörper binden auf den Dächern der Fahrzeuge jede Menge Säcke und Koffer fest. "Wir wollen es vor den Demonstrationen nach Nairobi schaffen, wer weiß, was passiert", keucht James, gemeinsam mit seiner Schwester hat er zwei Plätze im "Eldoret Express" in die Hauptstadt ergattert.

In seinen Armen hält er eine Tasche mit dem Aufdruck der kenianischen Wahlkommission, jener Behörde, die viele hier für die explosive Lage im Land verantwortlich machen. Deren Vorsitzender, Samuel Kivuitu, war es, der Kibaki zum Präsidenten gekürt hat - trotz unzähliger Anhaltspunkte dafür, dass die Wahl gefälscht wurde. Die Tasche weist James als Wahlbeobachter aus - für welche Partei? Er grinst, zuckt mit den Schultern. Wie die meisten Kikuyu hat auch er zu Präsident Kibaki gehalten. Und jetzt muss er fliehen.

"Die Kikuyu verlassen Eldoret in Massen", bestätigt Thomas Ngoy. Eigentlich ist er für die Ordnung hier am Busbahnhof verantwortlich, doch dieses Vorhaben musste er wohl oder übel aufgeben. Wie viele Busse derzeit Richtung Nakuru oder Nairobi fahren? "Ich habe den Überblick verloren, vielleicht dreißig, vielleicht auch fünfzig", sagt er.

Auch die Luo, Angehörige der Volksgruppe von Raila Odinga, dem Oppositionsführer, der den Wahlsieg für sich in Anspruch nimmt, fliehen. Sie wollen nicht zwischen die Fronten geraten. Seit dem Morgen sind 2.500 Soldaten und Polizisten einer kenianischen Spezialeinheit in Eldoret. Jeder fürchtet, dass an diesem Mittwoch nach ein paar Tagen gespannter Ruhe die Gewalt erneut ausbrechen wird. Bis dahin sollen die Busse wieder sicher im Depot stehen.

Noch sind die Straßen frei, doch viele befürchten, dass militante Oppositionsanhänger erneut Straßensperren errichten könnten. Busfahrer erzählen sich die Geschichte von Paul Karuri, einem Kikuyu, der am Samstag einen Bus mit 49 Flüchtlingen an Bord durch 15 solcher Straßensperren manövriert hat. Für die anderen Fahrer, deren Job derzeit lebensgefährlich ist, ist Karuri ein Held: An der ersten Straßensperre, wo mit Macheten bewaffnete Milizen verlangten, er solle die Tür öffnen und alle Kikuyu ausliefern, legte er den ersten Gang ein und fuhr den Verfolgern mit Karacho davon. Das Gleiche brachte er an 13 weiteren Sperren fertig. An der letzten, wo Milizen Strommasten über die Straße geworfen hatten, blieb er stehen - und wie ein Wunder tauchten Polizisten auf, die die Passagiere des Busses retteten. Ohne eine einzige Scheibe, die Karosserie von Steinen komplett zerbeult, kam der Bus schließlich in Nairobi an - niemand war verletzt. "Toll", lacht Henry, der Fahrer im "Eldoret Express". Doch selbst zum Helden werden möchte er lieber nicht, er macht, dass er loskommt.

Wer sich die Bustickets nicht leisten kann oder wer nicht weiß, wohin er fliehen soll, verschanzt sich auf dem Messegelände der Stadt. Es gilt als relativ sicher. Wo sonst einmal im Jahr Landwirte stolz ihre Rinder und Kohlköpfe präsentieren, hat das kenianische Rote Kreuz eine Zeltstadt errichtet. "Wir sind fast 5.000 hier, und wir erwarten noch mehr, bevor es wieder losgeht", erklärt John Deretu. Die Lagerinsassen haben ihn zu ihrem Sprecher gewählt. Deretu ist selbst aus Burnt Forest geflohen, die Bewohner des Dorfs in den Teeplantagen hatten besonders unter den Gewaltexzessen zu leiden. "Es gibt Leute, die bei ihren Verwandten untergekommen sind", erklärt er, "aber jetzt, vor den Demonstrationen, kommen viele noch hierher, um sicher zu sein." Das Messegelände hat nur zwei Eingänge. Mehrere Hundertschaften stehen bereit, um die Vertriebenen zu schützen.

Alle hier erzählen ähnliche Geschichten: Die Angreifer kamen zu Hunderten, bewaffnet mit Schlagstöcken, mit Macheten oder Fackeln, sie suchten nach Kikuyu. "Ich bin gerannt, gerannt, gerannt, bis ich zur Polizeistation kam", sagt die zehnjährige Jen Njeri. Als sie Lastwagen vom Gelände fahren sah, sprang sie kurz entschlossen auf. "Ich wusste nicht, wohin sie fahren, aber ich bin auf die Ladefläche gesprungen, um bloß wegzukommen." Nun ist sie hier im Auffanglager von Eldoret. Wie es ihren Eltern und Geschwistern ergangen ist, weiß sie nicht, das Rote Kreuz sucht nach ihnen.

Dass es sich bei den Gewaltausbrüchen um spontane Handlungen handelt, glaubt keiner der Flüchtlinge. Die Spannungen im Rift Valley reichen weit zurück. Seit Kenias Gründungspräsident Jomo Kenyatta, selbst ein Kikuyu, in den 60er-Jahren Farmer aus dem Hochland hier ansiedelte, gab es immer wieder politisch aufgeheizte Verfolgungen. Doch so schlimm wie dieses Mal war es noch nie, sagt Sarah Wanjiru. Sie wurde vor mehr als 40 Jahren im Rift Valley geboren. "Das hat jemand geplant", ist sie überzeugt. "Überall sind die Ausschreitungen zur gleichen Zeit losgegangen, und alle erzählen die gleichen Geschichten - kein Zufall."

Die vertriebenen Kikuyu sind sich einig darüber, wer hinter den Unruhen steckt: William Ruto, Spitzenpolitiker von Odingas Orange Democratic Movement, der im Rift Valley einen sensationellen Sieg für die Opposition geholt hat. "Ich erinnere mich, wie Ruto bei uns im Dorf war und gehetzt hat: Ihr müsst putzen bei euch im Dorf, schmeißt die gewissen Leute raus", erzählt einer, "und nach der Wahl ist genau das passiert." Dass die Kalenjin die Kikuyu, von denen viele Geschäfte besitzen und große Farmen bewirtschaften, stets als Bürger zweiter Klasse behandelt hätten, erzählen andere. Doch die Opposition weist alle Vorwürfe von Kibakis Anhängern zurück, sie habe einen Genozid oder "ethnische Säuberungen" organisiert. Belege für einen organisierten Völkermord gibt es tatsächlich nicht. Doch dass in diesem Wahlkampf gehetzt und gezündelt wurde wie nie zuvor in der Geschichte Kenias, weiß jeder.

In Eldorets Vorstädten, wo viele arbeitslose Kalenjin-Jugendliche leben, ist der aus Neid und Frust gespeiste Hass auf die Kikuyu so groß, dass es wohl keiner Hetze bedarf. Wer einen Bewohner anspricht, wird sofort von zehn, zwanzig anderen umringt, alle wollen Dampf ablassen. "Kibaki muss verstehen, dass wir die Kikuyu nicht aus Spaß verfolgen, sondern weil er die Wahl gestohlen hat", sagt Amos, der mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem Muscle Shirt wie eine Kampfmaschine aussieht. "Wir bestrafen die Kikuyu, damit Kibaki aufwacht", tönt er. "Und wenn er das nicht tut, dann sollte ihm klar sein: Das, was bisher passiert ist, ist nur der Anfang."

Samuel, ein anderer Wortführer, zieht einen Vergleich: "Das ist wie in Ostdeutschland, wo damals die Russen einmarschiert sind - hier sind die Kikuyu einmarschiert. Die sollen nach Hause ins Hochland zurück, das hier ist unser Land." Für den Mittwoch haben sich die Kalenjin einiges vorgenommen. "Wenn die Polizei auf uns schießt, setzen wir das ganze Land in Brand", ruft Amos. Die Menge auf der staubigen Hauptstraße jubelt ihm zu.

(Copyright die tageszeitung, 16.1.08)