Dienstag, 5. Februar 2008

Hilfe für die Hoffnungslosen


Die 20 Jugendlichen sitzen im Kreis unter einem großen Baum, der mitten in Onyama steht, einem der vielen Lager am Stadtrand von Gulu im Norden Ugandas. Sie reden, manchmal lachen alle gemeinsam, doch meistens herrscht aufmerksame Stille.

Die Mädchen und Jungen erzählen von der Vergangenheit, die sie alle so gezeichnet hat. Die einen leben seit ihrer Geburt in Lagern wie Onyama, auf der Flucht vor den Kinderräubern der "Widerstandsarmee des Herrn" (LRA), die mehr als 20 Jahre lang geschätzte 40 000 Mädchen und Jungen meist im Schutz der Nacht entführte. Achtjährige Jungen wurden als Soldaten, Mädchen als Sexsklavinnen und Küchenhilfen missbraucht.

Die anderen sind seit Anfang vergangenen Jahres, als der LRA-Anführer und selbsternannte Prophet Joseph Kony Friedensgespräche mit Ugandas Regierung aufnahm, nach und nach aus dem Busch zurückgekehrt. Sie sind ehemalige Kindersoldaten, diejenigen, vor denen die neuen Nachbarn in Onyama einst geflohen sind.

"Wenn Kony nachts beten ging, habe ich ihm seinen Betstuhl hinterhergetragen", berichtet der heute 21-jährige Deogratius Okema. Er ist nach acht Jahren an der Seite Konys der Albtraumwelt entkommen, in der alle einer rigorosen Gehirnwäsche unterzogen wurden. Viele Kinder mussten nahe Verwandte umbringen, um sich selbst den Rückweg in die Gesellschaft abzuschneiden. Bei Deogratius war das nicht anders: Ein Kommando der Kinderarmee nahm damals ihn und zwölf andere Kinder mit, die sich hinter einem Militärlager versteckt hielten. Von den Soldaten der Regierungsarmee war nichts zu sehen.

"Wir sind sieben Tage zu Fuß bei praller Sonne in die LRA-Lager im Südsudan marschiert", erinnert er sich. "Es gab kein Wasser und nichts zu essen - zwei machten schlapp, die wurden erschlagen und mit der Machete in Stücke gehauen." Nur wenn er über Kony spricht, wird die Stimme des starr geradeaus blickenden Jungen etwas weicher.

"Kony will die Armut in Norduganda beenden, er betet Tag und Nacht für die Menschen hier und will niemandem etwas Böses." Für die Gewalt, die Überfälle und all das Schlimme, das er selbst erlebt hat, macht Deogratius "die anderen" verantwortlich, die Konys Befehle missachteten. "Kony kann nichts dafür, er weint oft, weil seine Männer so ungehorsam sind." Der Führer selbst, so behauptet Deogratius, hat ihn vor anderthalb Jahren nach Hause geschickt. Da sei er gegangen, wieder zu Fuß, von den Lagern im Südsudan bis nach Onyama. Deogratius schweigt. Die anderen Jugendlichen schweigen mit ihm.

Seit Anfang 2007 herrscht eine Ruhe in Nord-Uganda, die viele der Jugendlichen noch nie erlebt haben. Konys Rebellenarmee hat sich irgendwo im Osten Kongos verschanzt - wie viele Jugendliche dort noch unter Waffen stehen, ist ungewiss. Die Verhandlungen mit der Regierung laufen schleppend, aber die Überfälle in Nord-Uganda haben aufgehört. Doch bewältigt ist die Vergangenheit noch lange nicht.

"Man sollte erwarten, dass die Rückkehrer Kony hassen", sagt Lucy Apiyo, die für das Hilfswerk "World Vision" Therapiesitzungen wie die unter dem Baum leitet. Apiyo kennt die Täter, die sich nach den traumatischen Erlebnissen an irgend etwas festhalten müssen - und sei es wie bei Deogratius am ehemaligen Peiniger. "Die Ex-Kindersoldaten halten mühsam ein Bild des strahlenden Führers aufrecht, damit ihnen ihr Leben nicht sinnlos erscheint."
Bei manchen reißt diese selbstgebaute Fassade irgendwann ein, und das kann tödlich enden. Die Selbstmordrate in den Flüchtlingscamps, in denen über Norduganda verstreut mehr als eine Million Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind, steigt seit Jahren. Alle paar Wochen erhängt, erschießt oder ersticht sich jemand in Onyama. Meistens sind es Kinder oder Jugendliche. Depressionen, sagt Apiyo, sind ein riesiges Problem in all den Flüchtlingslagern. Bisher hätten Hilfsorganisationen dies als Luxusproblem empfunden.
Erst jetzt ändert sich das langsam. Die Mädchen und Jungen sprechen, malen, spielen und weinen zusammen, immer wieder. "Wir waren sehr skeptisch, ob das klappt", sagt Lucy Apiyo, "schließlich bieten wir nur die Therapie an, kein Geld, kein Essen, nichts sonst." Doch der große Andrang gibt ihr Recht.

Noch mehr als die Täter brauchen die Opfer Apiyos Hilfe. Nordugandas Lagergeneration kennt keine Perspektiven. James Opio, der in Onyama lebt, solange er denken kann, ist gerade einmal 16. "Als ich acht war, ist mein Vater gestorben, ein paar Jahre später meine Mutter - auf einmal war ich allein mit meinen fünf jüngeren Geschwistern." Im Dorf hätte sich wohl die Großfamilie um ihn gekümmert - im Lager war Opio auf sich allein gestellt. "Ich habe versucht, Geld zu verdienen, aber es gab keine Jobs. Ich habe versucht, Lebensmittel oder andere Hilfe von den Organisationen zu bekommen, aber da waren so viele andere, dass ich kaum was abbekommen habe." Irgendwann wusste er nicht mehr weiter. "Ich habe mich nutzlos und wertlos gefühlt und gedacht: Da kann ich mich auch gleich umbringen, dann ist der Druck weg."

Dass er noch lebt, glaubt James, hat er einzig der Hilfe von Lucy Apiyo zu verdanken.

(Copyright Berliner Zeitung, 5.2.08)