Freitag, 11. Mai 2007

Anne will helfen


Auf einer Bastmatte zwischen den Zuckerrohrplantagen häkeln drei Ruanderinnen, vier andere flechten Körbe aus Sisal. Dazwischen sitzt Anne Will, Noch-Tagesthemen-Moderatorin, und versucht sich selbst an der Handarbeit. Vorsichtig sticht sie mit der Nadel durch den ersten Ring aus Sisal, den Jeanne Ntawaguruje für sie vorbereitet hat. "Ich brauche vier Arbeitstage für einen Korbö, erklärt die 31-Jährige, und Anne Will, die nach ein paar Minuten den zweiten Stich durch die harte Faser gemeistert hat, schaut entgeistert. "Wie lange würde ich wohl brauchen?" Die Handarbeit der Frauen aus den Plantagen von Gisenyi oberhalb des Kivusees ist Teil ihres Plans, die Armut in der entlegenen Region nahe der Grenze zum Kongo zu mildern.

Anne Will ist als Botschafterin von "Gemeinsam für Afrika" nach Ruanda gekommen. Solche Reisen nennt sie "Herzensbildung": "Nur so bleibt man aufmerksam für die Nöte der Menschen."

Für die Armutsbekämpfung haben sich nicht erst seit der Verleihung des Friedensnobelpreises 2006 an Muhammad Yunus Mikrokredite bewährt. Mit dem gemeinsamen Ansparen von Kapital und der selbstverwalteten Vergabe kleiner Kreditsummen sollen viele kleine Wirtschaftswunder entstehen, so wie bei den Frauen von Gisenyi, die vor knapp einem Jahr mit dem Sparen begannen. "Früher hat hier jede allein vor sich hin gewurschtelt, ich hatte täglich Angst, das Gemüse aus dem Garten würde nicht für die Familie reichen oder jemand würde erkranken", sagt Asteria Bavugamaneshi, 31. "Jetzt sprechen wir über Probleme und helfen uns." 25 Frauen sind in Bavugamaneshis Spargruppe versammelt, jede zahlt wöchentlich 100 Ruandische Francs ein, umgerechnet 20 Euro-Cent. Was mit dem Geld angestellt wird, beraten die Frauen einmal die Woche auf drei Holzbänken unter Bananenstauden.

"Zuerst haben wir gemeinsam ein Stück Land gekauft, auf dem wir jetzt Zuckerrohr anbauen und ernten", erklärt Bavugamaneshi. Weil ein Teil des Kaufpreises bar zu zahlen war, hätte keine Frau alleine kaufen können. Bei der Feldarbeit sahen die Mütter bald das nächste Problem kommen: "Wir mussten unsere Kinder zu Hause zurücklassen." Als die Frauen bei einem ihrer Treffen den Missbrauch mehrerer Kleinkinder besprechen mussten, war klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Die Mütter gründeten ihren eigenen Kindergarten, ein flaches Lehmhaus nahe der Felder, in dem sich vier angestellte Frauen um die Kinder der Arbeiterinnen kümmern. Für Miete und Gehälter nahmen die Frauen einen Kredit bei einer Bank auf, den sie mit den Erlösen aus dem Verkauf von Zuckerrohr, Körben und Häkeltaschen Stück für Stück abzahlen. Den Vorschuss hätten sie nie bekommen ohne die Bürgschaft der Kindernothilfe, die das Sparprojekt angeregt hatte. "Wir trainieren die Frauen und bürgen bei der Bank für diejenigen, die willens sind, ihre Kredite zurückzuzahlen", beschreibt Antoine Rutayisire die Rolle der deutschen Hilfsorganisation. "Den Rest machen die Frauen selber."

Schon beim Treffen unter den Bananenstauden hat Anne Will sich sichtlich mit den Frauen gefreut. "Man sagt den Leuten: Wir vertrauen euren Ideen, eurer Kreativiät, eurer Leidenschaft. Ich glaube, respektvoller kann man gar nicht helfen." Beim Besuch des Kindergartens bringt sie der johlenden Schar zuerst das Handspiel im Fußball bei und macht beim Seilspringen mit, umringt von Drei- bis Fünfjährigen. "Wie viele Kinder hast Du?", wollen sie wissen. Sie selber haben vier bis acht Geschwister. Dass Anne Will gar keine Kinder hat, können sie gar nicht glauben. "Dann grüß all die anderen Kinder in Deutschland", rufen sie der Moderatorin nach, als sie sich auf den Weg zur schlammigen Zuckerrohrplantage macht.

Bei all der Freude über die verlockende Zukunft kann man schnell vergessen, dass hier in den Hügeln vor dreizehn Jahren Nachbarn ihre Nachbarn ermordeten und Leichen in den Feldern oder am Straßenrand gestapelt lagen. In hundert Frühlingstagen wie diesen wurden zwischen 800 000 und eine Million Ruander getötet. Extremisten der Hutu, die in Ruanda die Bevölkerungsmehrheit stellen, hatten damals zur Vernichtung der Tutsi-Minderheit und moderater Hutus aufgerufen. "Ich habe die Hälfte meiner Familie verloren, vergessen werde ich das nie", sagt Asteria Bavugamaneshi. "Aber es muss weitergehen, vor allem für die Kinder."

Die Vergangenheit erwischt Anne Will mit voller Wucht, als sie die Kirche von Ntarama betritt, einen unscheinbaren Backsteinbau, der Innenraum ist bis auf den Altar leer. Noch vor wenigen Jahren bedeckten die Gebeine der Ermordeten, vermischt mit Kochtöpfen, Schlafmatten, Kleidungsstücken den Kirchenboden. André Kamana hat schon immer in Ntarama gelebt. 1994 suchten Tutsi in der Kirche Schutz vor den Mörderbanden. Doch die Extremisten haben Granaten in die Kirche geworfen und die mehr als 10 000 Menschen in der Kirche mit Macheten und bloßen Händen ermordet." Der neunfache Vater Kamana war da schon mit seiner Familie nach Burundi geflohen, sonst wäre er auch tot.

Graue Flecken an der Wand sind die letzten Reste von jenen, die von Granaten zerfetzt wurden. An den Wänden klebt getrocknetes Blut. Heute ist die Kirche eine Gedenkstätte. Die Schädel der Toten sind aufgebahrt, die Gebeine in Katakomben unter der Erde beigesetzt. Anne Will atmet schwer durch, als sie die Treppen in eine der Gruften herabsteigt. Der Schein der Taschenlampe bleibt an einem Sarg hängen, auf dem das vergilbte Bild einer Frau liegt. Zögernd nimmt sie es in die Hand und setzt sich auf eine der Treppenstufen. "Das ist Anunciate Mukandori, eine Mutter aus Ntarama, die hier mit ihren Kindern gemeinsam begraben liegt", erklärt Kamana. "Woher weiß man das?" will Anne Will wissen. Nach all dem Grauen kann sie sich nicht mehr vorstellen, dass man noch bestimmen kann, wer wer war. "Das hat uns ihr Mörder erzählt", sagt Kamana schlicht.

Auf den Hügeln und in den Tälern, wo Anne Will noch mehr Frauen trifft, hört sie stets das Gleiche. Fast jede Mutter hat Waisen ihrer Verwandten aufgenommen. Die meisten haben Angehörige verloren, jeder kannte die Täter. "Aber es muss weitergehen" - an diesem Wort halten sich alle fest. Eine neue Kuh, ein neues Feld, ein Generator, der Strom und Einnahmen erzeugen soll, all das ist einfacher zu begreifen als der Völkermord.

Beschwiegenes Massentrauma

Madeleine Ntagahira, die einer Spargruppe in Rolindo im Zentrum Ruandas vorsitzt, glaubt, dass das Sparen nur ein erster Schritt ist. "Wir haben hier auch manche Ehe geradegebogen." Nach und nach sei unter den Frauen in Rolindo eine Vertrauensbasis entstanden, auf der früher oder später vielleicht auch über den Genozid und seine Folgen gesprochen werden könne. "Aber noch ist es dafür zu früh."

Anfang Juni wird Anne Will aus Heiligendamm vom G8-Gipfel berichten, ihr wahrscheinlich letzter Großeinsatz für die Tagesthemen. "Ich wünschte, die Staats- und Regierungschefs könnten das hier sehen", sagt sie. Wenn auf Gipfeltreffen im großen Bogen diskutiert werde, müsse sie stets vermeiden, zynisch zu werden. "Denn das will ich nicht. Ich will einfach, dass die G8 im Großen das tun, was hier im Kleinen funktioniert: Den Armen helfen, sich selbst zu helfen."

Copyright Berliner Zeitung, 11.5.2007